Sicherheitsübung vor den Olympischen Spielen, 19. Januar 2012.

Orwells Geist flattert über Olympia

Während sich die Sportler weltweit auf den Beginn der Olympischen Spiele am 27. Juli vorbereiten, meckern die Londoner über Verkehrsstaus und Verspätungen in den öffentlichen Verkehrsmitteln und die massive, einschüchternde Präsenz von Sicherheitskräften.

Veröffentlicht am 20 Juli 2012 um 14:39
Sicherheitsübung vor den Olympischen Spielen, 19. Januar 2012.

Auf die kürzlich in einer Repräsentativbefragung gestellte Frage: „Was halten Sie von den Olympischen Spielen?“, antworteten die Befragten unter anderem mit höhnischem Lachen, und Wörter wie „Fiasko“, „Desaster“ und „Polizeistaat“ kehrten in den Antworten häufig wieder. Viele erklärten genau, wie sie normalerweise zur Arbeit gelangen, warum das nicht länger möglich ist und wie unzufrieden sie damit sind.

„Es bleibt ein Gefühl wie Rückenschmerzen am Ende eines Tages“, sagte kürzlich Steve Rogers, Baustellenleiter, während er in der Nähe von Victoria Station eine Zigarette rauchte. Als besonders belastend empfand er die U-Bahn-Pläne („das reinste Chaos“), die Straßensperrungen („ein echter Albtraum“) und die Tatsache, dass die Olympiade anstatt im Baugewerbe Stellen für Briten zu schaffen „einem Haufen Letten, Rumänen und Tschechen“ Arbeit bescherte.

Auch in besten Zeiten gehört Nörgeln, wie die Briten die anhaltende, unterschwellige Quengelei nennen, mit der sie auf alle Herausforderungen des Lebens reagieren, zu den charakteristischen Merkmalen der Nation und ist ebenso wenig wegzudenken, wie die abgeschlagen-depressive Haltung gegenüber dem Wetter („Vorkehrungen für Überschwemmungen treffen,“ riet kürzlich The Daily Mail).

Aber obwohl die Briten traditionell zu Übertreibung neigen, ist derartige Angst doch ungewöhnlich. „Was wir hier vor uns haben, geht über den Trost hinaus, den die Briten im leisen Jammern suchen“, so Dan Hancox, freiberuflicher Schriftsteller. „Die Olympischen Spiele bringen die Leute aktiv gegen sich auf.“ Auf Twitter schrieb D. Hancox, für die Londoner sei es, als ob ein Fremder in ihrem Haus eine Party gibt und hohen Eintritt verlangt und sie alle im Keller eingesperrt sind.

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Bürger sollen zu Hause bleiben

„Die Verkehrswege wurden in so großem Umfang gesperrt wie bei einem bevorstehenden Militärkonflikt,“ sagte er in einem Interview. „Unternehmen werden aufgefordert, Waren einzulagern, Bürger sollen zu Hause bleiben, nirgendwo hin gehen und vor allem nicht U-Bahn fahren – quasi auf ihrem Sofa sitzen bleiben – als wäre das zu ihrer eigenen Sicherheit. Durch die Straßen bewegt sich eine Armee. Es ist, als würden wir in Kriegsvorbereitungen stecken, und das ist den Briten nach 60 Jahren Frieden unangenehm.“

Die Medien haben dieses allgemeine Elendsgefühl noch verstärkt. The Daily Mail veröffentlichte Artikel, aus denen hervorgeht, dass Hunderttausende Tickets noch nicht an den Mann gebracht werden konnten, dass niemand Frauen beim Fußballspielen zuschauen will und dass nicht alle Mountainbike-Strecken rechtzeitig fertig sein werden. „Ein Durcheinander bei der Sicherheit könnte für die Zuschauer im Chaos enden“, schrieb die Zeitung in dieser Woche – direkt neben einem Artikel mit der Überschrift „Neue Pannen in Londons öffentlichen Verkehrsmitteln.“

Viele Londoner haben den Eindruck, von der Olympiade nur die Nachteile mitzubekommen – Kosten, Ärger und Verbote von offizieller Seite, bestimmte Dinge zu tun oder sich an bestimmte Orte zu begeben – aber keinen einzigen Vorteil. Das von der Regierung zu horrenden Kosten angeheuerte Sicherheitsunternehmen erwies sich als weitgehend inkompetent. Die Manager der „Marke“ Olympia haben deutlich gemacht, dass außer offiziellen Sponsoren niemand aus den Olympischen Spielen Profit schlagen darf.

Bußgeld für das Wort „Olympiade“

„Wie in einem Polizeistaat“, sagt eine Geschäftsfrau. Sie erklärt, dass ihr Unternehmen in den sozialen Medien eine Kampagne im Zusammenhang mit der Olympiade starten wollte, dass es jedoch von Anwälten vor Strafverfolgung und Bußgeld gewarnt wurde, sollte es das Wort „Olympiade“ verwenden. „Deshalb sind nirgendwo in Schaufenstern oder auf der Straße Anspielungen auf die Olympischen Spiele zu sehen – die Leute haben zu viel Angst“, sagt sie.

Eine weitere Frage: Was, wenn es nicht aufhört zu regnen? Trotz des regnerischsten Sommers seit Beginn der Aufzeichnungen, der sich durch Überschwemmungen und Flutkatastrophen auszeichnet, hoffen die Offiziellen weiterhin auf ein Ende des Regens vor Beginn der Sommerspiele. Einen Katastrophenplan gibt es wirklich nicht; das Olympiastadion, in dem die Eröffnungszeremonie stattfinden wird, hat kein Dach.

Sebastian Coe, Vorsitzender des Londoner Organisations-Komitees, sagte diese Woche, manche olympischen Veranstaltungsorte außerhalb Londons seien „wassergesättigt“, und er forderte die Zuschauer auf, sich mit Regenmänteln und Gummistiefeln auszurüsten. „Es liegt auf der Hand, dass wir ein nordeuropäisches Land sind,“ so S. Coe zu Journalisten.

Linda Vaughn, 68, trafen wir in der Nähe von Victoria Station. Sie sagte, sie sei perplex angesichts der offensichtlich widersprüchlichen Botschaften: Willkommen zu den Olympischen Spielen, Bitte gehen Sie jetzt wieder.

„Uns wird immer wieder gesagt, wir sollten „die Olympischen Spiele überholen,“ sagt sie unter Bezugnahme auf das Programm, mit dem die Stadt ihre Einwohner davon überzeugen will, alternative Fortbewegungspläne zu machen. „Wo wir jedoch hin sollen, bleibt ein Geheimnis, besonders, da in London bestenfalls überhaupt nichts läuft.“

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