Presseschau Aus dem hohen Nord(west)en

Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts: die neue europäische Mitte

Die Presseschau dieses Monats befasst sich mit Olivier Roys Essay über die neue europäische Mitte und mit einigen europäischen Politikerinnen und Politikern, die in dieses Bild passen – oder aus dem Rahmen fallen.

Veröffentlicht am 16 Mai 2024 um 11:53

Eine der auffälligsten Schlagzeilen der letzten Monate erschien im Medium The Free Press von Bari Weiss: „How Abortion Became ‚the Defund the Police of the GOP‘“. Während des Höhepunkts der Black-Lives-Matter-Proteste 2020 in den USA wurde „Defund the Police“ zum Symbol für die Exzesse einer Aktivist*innenklasse ohne Kontakt zur allgemeinen Bevölkerung und den schwarzen Leben, die nur als Requisiten für bestimmte politische Ziele von Bedeutung zu sein schienen – Ziele, die dazu neigten, das Bild der Demokratischen Partei für den Durchschnittswählenden zu trüben. Wie Olivia Reingold in ihrem Artikel erklärt, wird die Republikanische Partei in den USA jetzt in ähnlicher Weise zu einer Position zur Abtreibung gedrängt, die sich nachteilig auf ihr Wahlergebnis auswirken könnte. 

Überträgt man dieses Bild der Mitte und ihrer Ränder auf den europäischen Kontext, könnte man sagen, dass der soziale oder religiöse Konservatismus für die populistische Rechte das ist, was die Einwanderung für die Linke ist. Diese Schlussfolgerung können wir zumindest aus der tiefgründigen und weitreichenden Analyse des Politikwissenschaftlers Olivier Roy in Le Grand Continent, „Le Grand Recentrement“, ziehen, in der Roy die neuen Parameter des europäischen politischen Zentrismus umreißt. Roy zieht eine Bilanz der verschiedenen Siege und Niederlagen der europäischen Populistinnen und Populisten in den letzten Jahren und stellt fest, dass die eher sozialkonservativen Parteien wie Vox in Spanien (gegen gleichgeschlechtliche Ehe und Abtreibung), oder PiS in Polen, tendenziell ein weitaus schlechteres Schicksal erlitten haben als Sozialliberale wie Geert Wilders in den Niederlanden oder sogar Marine Le Pen in Frankreich

„Der Populismus, der gewinnt“, schreibt Roy, „ist ein libertärer Populismus [...]. Marine Le Pen hat das klar verstanden, als sie in ihrem Wahlprogramm 2017 die französische Identität durch laïcité [Laizität] und nicht durch das Christentum definierte. Sie stellt das Recht auf Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe nicht in Frage. So steigt sie in den Umfragen, während Marion Maréchal das nicht schafft. Geert Wilders, Gewinner der Wahlen im Dezember 2023 in den Niederlanden, verfolgt ein entschieden liberales Programm, wenn es um Fragen der sozialen Sitten geht.“


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Während die populistische Rechte im Vorfeld der Europawahl 2024 weiter an Boden gewinnt, ist der Sonderfall bei der Linken Dänemark, dessen linke Regierung von Mette Frederiksen für ihre (für europäische Verhältnisse) ungewöhnlich strenge Haltung zu Migration und Asyl bekannt ist. „Für mich wird immer deutlicher, dass der Preis für die unregulierte Globalisierung, die Masseneinwanderung und die Freizügigkeit der Arbeitskräfte von den unteren Klassen bezahlt wird“, zitierte The Guardian Frederiksen kurz vor ihrem entscheidenden Sieg über die dänische Rechtsregierung im Jahr 2019. Für Roy verkörpert die dänische Regierung das neue Zentrum in der europäischen Politik. „Das typischste Beispiel für diese Verlagerung“, schreibt Roy, „findet sich in Dänemark, wo die sozialdemokratische Partei die restriktivste Politik der Ausgrenzung und Zwangsassimilation in ganz Europa umgesetzt hat, und zwar im Namen des Sozialmodells und der liberalen Werte.“ Roy bezieht auch das Frankreich von Emmanuel Macron in diese Verlagerung ein: „In Frankreich verankert man die Abtreibung gleich in der Verfassung, während man das restriktivste Einwanderungsgesetz verabschiedet.“ 

Zum Thema Macron und die politische Mitte sei an Didier Fassins Artikel in der London Review of Books aus dem Jahr 2019 erinnert, in dem er argumentiert, dass Macron (ein „extremer Zentrist“) in Wirklichkeit eine Art Populist ist: „Populismus wird in der Regel als eine diskursive Strategie verstanden, die sich gegen das Volk und die Elite richtet, wobei die Populistinnen und Populisten behaupten, das Erstere gegen die Letztere zu vertreten. Doch die belgische Politiktheoretikerin Chantal Mouffe, Verfechterin des Linkspopulismus, argumentiert überzeugend, dass dieser auch eine vertikale Form der Macht impliziert und eine charismatische Führungspersönlichkeit erfordert. Macron, der so viel Wert auf seine Ablehnung traditioneller politischer Eliten – rechts und links – und seinen Wunsch nach einer direkten Beziehung zum Volk legt, ist zweifellos ein Populist."

Ein weiterer Sonderfall in der europäischen Linken und eine Politikerin, die Mette Frederiksens Analyse der Massenmigration zweifellos zustimmt, ist Sahra Wagenknecht in Deutschland. Julia Kaiser weist in ihrem Artikel für das britische Medium The Parliament mit Schwerpunkt EU-Politik auf die Ironie der Tatsache hin, dass die größte Wahlbedrohung für die AfD - neben den Bemühungen, sie ganz zu verbieten – von einer Politikerin ausgeht, die angeblich auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht. Im Gespräch mit Kaiser weist ein Vorstandsmitglied des Instituts für Wahlanalysen und Gesellschaftsbeobachtung Forschungsgruppe Wahlen auf die wahltaktischen Überschneidungen zwischen der AfD und Wagenknechts BSW hin: „Bei der Betrachtung der Unterstützendengruppen sehen wir das größte Potenzial in der Anhängerschaft der AfD: 43 % der AfD-Anhänger*innen erwägen, das BSW zu wählen.“ Fabio De Masi, Spitzenkandidat des BSW bei der kommenden Europawahl, spricht offen über den Versuch der Partei, den Frust der AfD-Wählenden anzuzapfen: „Wir wollen denjenigen ein ernsthaftes Angebot machen, die aus Frust und Wut die AfD wählen, weil sie meinen, das sei die sichtbarste Form, ihren Protest auszudrücken.“

Wagenknecht gehört jedoch aus mehreren Gründen nicht zu der von Olivier Roy skizzierten neuen europäischen Mitte. Zu diesen Gründen gehören ihr vermeintlicher Euroskeptizismus sowie ihre Opposition gegen Militärhilfe für die Ukraine. Während Frederiksen, wie auch der kürzlich in Polen gewählte Donald Tusk, offensichtlich mit dem liberalen oder linken Konsens in der Migrationsfrage gebrochen hat, sind sie entschieden pro-NATO und pro-Ukraine und auf keinen Fall euroskeptisch. Man kann sich nicht vorstellen, dass der EU Observer einen Artikel veröffentlicht, in dem erklärt wird, dass jemand wie Wagenknecht die nächste EU-Ratspräsidentin sein sollte, während ein Artikel, in dem dafür plädiert wird, dass Mette Frederiksen diese Rolle übernehmen sollte, keine große Überraschung wäre. 

Hugo Blewett-Mundy, wissenschaftlicher Mitarbeiter beiEUROPEUM, schreibt, dass Frederiksen die ideale Nachfolgerin für Charles Michel ist, wenn seine Amtszeit in naher Zukunft endet. Seiner Meinung nach ist es gerade Frederiksens klare Haltung gegenüber Russland, die ihr diese Rolle einbringen sollte. Dänemark ist „der zweitgrößte bilaterale Geber für Hilfe an Kyiv im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (nach Estland) [...]. Trotz der wirtschaftlichen Folgen des Krieges hat Dänemark 60,4 Mrd. DKK (8,1 Mrd. €) in einen nationalen Ukraine-Fonds eingezahlt. Frederiksen hat auch persönlich die gemeinsamen Bemühungen um eine Aufstockung der Verteidigungsinvestitionen geleitet.“ Blewett-Mundy hebt auch Frederiksens Talent zur Konsensbildung hervor: Ihre Regierung führte im Juni 2022 eine erfolgreiche Referendumskampagne durch, um Dänemarks Nichtbeteiligungsklausel bezüglich der EU-Verteidigungspolitik außer Kraft zu setzen, „eine mutige Entscheidung für ein traditionell euroskeptisches Land“.

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ECF, Display Europe, European Union

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