Am 19. Dezember löste ein Einsatz der Polizei in Portugal eine Welle der Empörung aus. An diesem Tag wurden in der Benformoso-Straße unweit vom Zentrum mehrere Dutzend Personen an die Wand gestellt und durchsucht. Die Szene wurde von Anwohnern gefilmt, auf Social Media gepostet und ging viral.
Zu sehen sind Dutzende Männer indischer Herkunft, die ihre Gesichter gegen die Wand gedreht und ihre Hände in die Höhe gestreckt haben. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befinden sich mehrere Polizeibusse. Die Aktion dauerte mehr als zwei Stunden und ist alles andere als ein Einzelfall. Sie ist Teil einer Reihe von sogenannten „Sicherheitsinterventionen“, die von der portugiesischen Regierung inszeniert werden.
Die Szene spielte sich im bekannten Lissabonner Stadtteil Martim Moniz ab, auch Mouraria genannt, in dem hauptsächlich Menschen mit indischen Wurzeln leben. Übrigens hat das Viertel seinen Namen bekommen „von dem Gebiet, das den Mauren zugestanden wurde, nachdem sie bei der Reconquista von 1147 von den Christen besiegt wurden“, wie Courrier International im Februar 2024 unter Berufung auf die portugiesische Nachrichtenagentur Lusa präzisierte. Laut der französischen Wochenzeitung „leben und arbeiten dort oft unter sehr prekären Bedingungen schätzungsweise 15 000 Muslime, die meist vom indischen Subkontinent stammen.“
Die Zivilgesellschaft reagierte umgehend auf die Geschehnisse in der Benformoso-Straße: Mindestens 15 000 Menschen gingen auf die Straßen des Viertels (laut SIC notícias 50 000), um zu demonstrierten, wie Sonia Martínez auf der spanischen Nachrichtenseite El Salto berichtet.
Der Aufruf zu den Demonstrationen kam über soziale Netzwerke und insbesondere über den Instagram-Account „Não nos encostem à parede“ („Stellt uns nicht an die Wand“). Auch zahlreiche Printmedien sowie Intellektuelle, Journalisten und Politiker riefen dazu im Fernsehen oder Radio auf. Darüber hinaus beteiligten sich Migrantenvereine und antirassistische Vereinigungen massiv an der Demonstration.
Den Organisatoren zufolge zielten die Proteste darauf ab, „alle in Portugal lebenden und arbeitenden [Migranten]“ zu unterstützen, damit sie „mit Würde behandelt werden“. Auch sie betonten, dass der Polizeieinsatz „kein Einzelfall ist, sondern solche Aktionen regelmäßig in anderen Stadtteilen Lissabons und anderen Städten des Landes stattfinden.“
Der konservative Premierminister Luís Montenegro hingegen begrüßte die Polizeiaktion im Namen der „Sicherheit der Bürger“, wie El Salto berichtet. Die spanische Nachrichtenseite fügt hinzu: „Die extreme Rechte, hauptsächlich durch die Chega-Partei vertreten, konzentriert sich auf Martim Moniz und lenkt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit so auf die Migranten, die in dem Viertel leben. Damit schürt sie einen fremdenfeindlichen und rassistischen Diskurs, den sich die Regierung zu eigen macht, indem sie ‘Sicherheitsmechanismen’ einführt und ‘Arbeitsmigranten’ auf diese Weise kriminalisiert, was einen klaren Rechtsruck zum Ausdruck bringt.”
Übrigens ist es nicht das erste Mal, dass Chega in dem Viertel Demonstrationen gegen eine angebliche „Islamisierung Europas“ organisiert.
Zwar ist das Mouraria-Viertel seit langem für den Verkauf und Konsum von Drogen sowie für Kleinkriminalität bekannt, doch hänge dies nicht mit der Anwesenheit von Migranten zusammen, wie der sozialdemokratische Bürgermeister des Bezirks, Miguel Coelho, in der Tageszeitung Público betont. Er verurteilte den Polizeieinsatz und hielt ihn aufgrund seiner „Haltung, der Art und Weise, wie eine soziale und ethnische Gruppe ins Visier genommen wurde und seiner Dauer“ für „inakzeptabel“.
Der Fall bringt wieder einmal ein Thema auf die Tagesordnung, das ganz Europa beschäftigt: Polizeigewalt, insbesondere in sogenannten „Randgebiete“, in denen sich soziale und territoriale Ungleichheiten sowie Ungleichheiten beim Zugang zu Wohnraum konzentrieren.
Gleichzeitig haben sich die historischen Stadtzentren gentrifiziert - eine Erfahrung, die Lissabon schneller und heftiger als viele andere europäische Städte gemacht hat. „Innerhalb eines Jahrzehnts sind die Wohnungspreise in Lissabon explodiert. Zwischen 2012 und 2022 sind sie um 120 % gestiegen, was hauptsächlich auf mangelnde öffentliche Investitionen und das Fehlen einer Politik zur Eindämmung der Spekulation zurückzuführen ist. Auch die Mieten sind mit 30 % erheblich gestiegen in den letzten fünf Jahren, wobei die Löhne praktisch gleich geblieben sind, was die Kaufkraft der Bevölkerung verringert“, erklärt Agostino Petrillo, Professor für Stadtplanung im Magazin der italienischen Stiftung für Sozialkritik Terzo Giornale.
Im April 2024, zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution (1974-2024) interviewte der französische Mediapart-Journalist Mickaël Correia mehrere Aktivisten zur Wohnungsfrage, darunter António Brito Guterres, Mitglied von Vida Justa, einer Bewegung, die mehr als 80 Organisationen und Kollektive umfasst, die ein würdiges Leben insbesondere für die Bewohner der ärmsten Stadtviertel fordern. Brito Guterres ist Wissenschaftler für Stadtforschung und erklärt: „Während der Nelkenrevolution war Lissabon eine postkoloniale Stadt. Jetzt ist die durch die Wohnungskrise verursachte ‘Rassentrennung’ dabei, sie in eine koloniale Metropole zu verwandeln.“
Mehrere Demonstrationen gegen Polizeigewalt in Portugal
Die Demonstration vom 11. Januar in Lissabon ist Teil einer längeren Geschichte. Bereits am 26. Oktober hatte Vida Justa nach dem Tod von Odair Moniz, einem 43-jährigen Kapverdier, der seit über 20 Jahren in Portugal gelebt hatte, zu Protesten aufgerufen. Der Barbesitzer und Vater von drei Kindern wurde am 21. Oktober 2024 bei einem Polizeieinsatz tödlich verletzt - was an ähnliche Vorfälle in anderen Vorstädten und Ländern erinnert (wie die Fälle Ramy Elgaml in Italien und Nahel Merzouk in Frankreich).
Zunächst behauptete die Polizei, Moniz habe sich geweigert, sich einer Identitätskontrolle zu unterziehen und die Beamten mit einem Messer angegriffen. Diese Version wurde inzwischen jedoch durch Videoaufnahmen widerlegt, ein Verfahren wurde bereits eingeleitet.
In den Tagen nach dem Tod von Odair Moniz kam es im Stadtteil Amadora, in dem er gelebt hatte, zu Zusammenstößen zwischen den Bewohnern und der Polizei. „Trotz der Ungewissheit über die Umstände der Schießerei ließ der Vorsitzende der rechtsextremen Anti-Immigrationspartei Chega, André Ventura, nicht lange mit Erklärungen auf sich warten und forderte die Bürger auf, der Polizei für ihre Maßnahmen zu danken. Er sagte, dass „der Polizist, der auf Moniz geschossen hat, ‚ausgezeichnet und nicht angeklagt werden sollte‘“, erklärt Ashifa Kassam im Guardian.
Bereits 2023 war der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung besorgt angesichts von Berichten über exzessive Gewaltanwendung durch die Polizei in Portugal und deutete an, dass eine „tief verwurzelte Diskriminierung gegen Menschen afrikanischer Abstammung“ fortbestehe.
Wie viele Menschen sind in Portugal durch Polizeigewalt gestorben? In einer Studie des European Data Journalism Network, an der Voxeurop beteiligt war, schreibt Pedro Miguel Santos von Divergente: „Berichte, die zwischen 1996 und 2023 veröffentlicht wurden, zeigen, dass die portugiesischen Polizeikräfte 80 Menschen getötet haben. Die Polizei (PSP) tötete 49 Personen, die GNR (entspricht der Gendarmerie) 30 Personen und der Nationale Einwanderungs- und Grenzdienst (SEF) - der mittlerweile aufgelöst wurde - eine Person. Die 1990er- und 2000er-Jahre waren die Jahrzehnte mit den meisten Todesfällen, wobei 2003 mit sechs Todesfällen einen Höhepunkt darstellte. Es gibt jedoch keine Daten über Todesfälle, die von anderen Polizeikräften wie der portugiesischen Kriminalpolizei (PJ) oder der Seepolizei (PM) verursacht wurden.“
Auch, so Santos weiter, seien die Zahlen unzureichend, ebenso wie die angewandte Untersuchungsmethode: „Tatsache ist, dass der portugiesische Staat weder weiß, wie viele seiner Beamten sterben noch wie viele seiner Bürger von diesen Polizeikräften getötet werden. (...) Fünfzig Jahre nach der Nelkenrevolution ist ein solch eklatanter Mangel an Transparenz unerträglich.“
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