Raus mit der Wahrheit

Die Krise hat so manche Betrügereien und Listen der Politik offen gelegt, aber die europäischen Staatschefs verstecken sich weiterhin vor der Wahrheit und verleugnen, was offensichtlich ist. Dabei sind nur Offenheit und der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, in der Lage, Europa zu retten.

Veröffentlicht am 22 Juni 2011 um 15:05

Je mehr Krisen und Staatspleiten in Europa bekannt werden, umso zahlreicher werden auch die Revolten der „Empörten“: in Griechenland, Spanien und auch Italien, wo der Bankrott bisher lediglich droht. Die Regierungen tendieren dazu, ausschließlich die Schattenseite der Revolten zu sehen: die schmerzhafte Bewusstwerdung der Realität und die nahezu blinde Wut.

Diese Kurzsichtigkeit erklärt jedoch nur teilweise einen Aufstand, der sich nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf die äußere Form des Verhaltens (also die Ethik) der Regierungen bezieht: Ihr Fahren auf halbe Sicht, stets mit der nächsten Wahl oder Meinungsumfrage im Blick, ihre Bemühungen, die angegriffenen öffentlichen Haushalte zu verbergen, über Immigration und Defizite nicht die Wahrheit zu sagen und der Presse, den Zentralbanken und Europa, die allesamt verdächtigt werden, schlechte Neuigkeiten in Umlauf zu bringen, die Schuld zuzuschieben.

Auf diesem Gebiet ist Italien Vorreiter. Seitdem Silvio Berlusconi wieder an der Regierung ist, wiederholt er immer dasselbe: Der Untergang spielt sich allein in euren Köpfen ab, ihr Miesmacher, uns geht es doch besser als manchen tugendhaften Ländern. Am 20. Juni erklärte er, die Krise sei noch nicht vorbei. Dabei hatte er nie von ihrem Beginn gesprochen.

Mit Transparenz gegen die Krise

Wir sollten nicht vergessen, dass eine der interessantesten Initiativen der „Empörten“ in Spanien die Information betrifft. Ergriffen hat sie Antòn Losada, Professor für Politikwissenschaft, und sie heißt „Sin preguntas no hay cobertura“ (Twitter: #sinpreguntasnocobertura, „ohne Fragen keine Mediendeckung“). Dieser Initiative sind Tausende von Journalisten beigetreten, und wenn eine Pressekonferenz die Störenfriede nicht zulässt, wird sie boykottiert, so dass die Regierung mit ihren wackligen Versprechen allein bleibt.

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Das zeigt eindeutig, dass mit diesen Revolten dringend nach Wahrheit und Gerechtigkeit verlangt wird. Man reagiert nicht auf die Krise, indem man die Bürger zwingt, den Gürtel enger zu schnallen und dem Volk unangemessene Angst einflößt, sondern mit transparenten Informationen: darüber, warum man die Steuern nicht senken kann, über die schwache Demographie, die nur durch Immigration verbessert werden kann, über die Voraussetzungen für Wachstum, die Gerechtigkeit, Legalität und Verdienst sind, der Preis, den die Reichen und die Vermögendsten zahlen können.

In seinem Editorial vom 15. Juni schreibt Nikos Konstandaras, der Leiter der griechischen Tageszeitung Kathimerini, vom „unmöglichen Reiz der Einsamkeit“, also der Illusion, dass die Krise nicht ausbricht, wenn die Staaten vor Europa, vor der Welt, vor den Märkten die Augen verschließen. Gewiss, die Märkte sind schon seltsame Biester: Sie toben hysterisch und dürsten nach Blut. Sie sind kurzsichtig, doch sie greifen den Katastrophen nicht völlig blindlings vor: Sie machen eine Momentaufnahme der Regierungen zu einem bestimmten Zeitpunkt und ziehen daraus ihre Folgerungen. Sie sind für uns ein zweiter Gerichtshof, neben den Wahlurnen.

Grenzüberschreitende res publica

Sich verstecken, das ist keine Politik – ebenso wenig wie das Heucheln, man sei ein souveräner, ganz alleine entscheidender Staat, und das Ignorieren einer europäischen Öffentlichkeit, gegenüber welcher wir ebenso verantwortlich sind wie gegenüber unserer Nation. Es gibt heute eine res publica, die über unsere Grenzen hinausgeht, mit ihren eigenen Regeln, und deren Anführer nicht den einzelnen Regierungen entstammen, sondern umfangreicheren Institutionen antworten.

Nehmen wir zum Beispiel die Ernennung von Mario Draghi zum Vorsitzenden der Europäischen Zentralbank (EZB). Ein tadellose Auswahl, die aber auf die wirrste und archaischste Weise stattfand: Im Gegenzug für diese Ernennung verlangte Nicolas Sarkozy, dass für Paris ein Sitz im Vorstand der EZB freigemacht werde, und Berlusconi bot ihm somit den Kopf von Lorenzo Bini Smaghi [Mitglied im EZB-Vorstand] an, als ob dieser zu seinen eigenen Leuten gehöre und nicht einer der leitenden Funktionäre der EU sei. Das Mandat von Lorenzo Bini Smaghi, der 2005 für acht Jahre gewählt wurde, endet am 31. Mai 2013 und kann weder von den Mitgliedsstaaten noch durch Abkommen zwischen diesen Staaten widerrufen werden.

Der Hieb geht nicht gegen ihn, sondern gegen die europäischen Institutionen, denen seine Loyalität gehört. Die Affäre schafft zudem einen beunruhigenden Präzedenzfall: Jede Regierung kann von da an entscheiden, der europäischen Hoheit bestimmte Mandate und Regeln zu entziehen. Der Verstoß gegen den Vertrag von Maastricht, der durch eine so genannte „ungeschriebene Regel zwischen den Staaten“ gerechtfertigt wird, ist offensichtlich.

Mehr Autonomie für die EU-Kommission

Auch hier mangelt es an transparenten Informationen und an einer Anerkennung der europäischen Öffentlichkeit. Ebenso wie es auch keine Transparenz in Steuerbelangen gibt, wo Senkungen unmöglich sind, und in der Immigration, die wir in wirtschaftlicher und demografischer Hinsicht brauchen.

Diese Mehrdeutigkeiten sind zum Großteil der Europäischen Union zuzuschreiben, der Untätigkeit ihrer Spitzenpolitiker, die den Mitgliedsstaaten hörig sind. Wieder einmal fehlt es an wahren Worten und aufgrund der übermäßigen gegenseitigen Gefälligkeiten und einer absurden Ehrerbietigkeit gegenüber den großen Ländern kämpft Europa nun gegen die aktuellen Bankrotte, wie der ehemalige EU-Kommissar Mario Monti in einem sehr erleuchtenden Artikel in der Financial Times vom 21. Juni schreibt. Es gibt so viele Fragen, in denen die EU mitzureden hätte, angefangen bei den Kriegseinsätzen, die missbräuchlich als „friedlich“ bezeichnet werden.

Eine autonome Europäische Kommission, die ihrer Autorität bewusst wäre, wüsste auf all diese Ereignisse (Bini Smaghi-Affäre, Staatsschulden, Kriege) zu reagieren wie zu Zeiten Walter Hallsteins. Der erste Vorsitzende der Exekutive in Brüssel zögerte Ende der 1960er Jahre nicht, die Forderungen von De Gaulle im Namen der entstehenden europäischen res publica zurückzuweisen. Er war zwar „zum Verlierer bestimmt“, doch es gibt Niederlagen, mit denen man die gedemütigten Institutionen rettet – wenn man sie denn retten will. (ae, pl-m)

Analyse

Brüsseler Turm zu Babel

Dem Euro droht das gleiche Schicksal wie dem Turm zu Babel, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Europäer hätten ihre gemeinsame Sprache verloren, mit deren Hilfe sie stets zu ihren berühmten Brüsseler Kompromissen gefunden hätten. Vor der Eurokrise konnte die EU noch im Rhythmus der Kuhhandel zwischen Mitgliedsstaaten voranschreiten – „Wenn Du mir in der Landwirtschaftspolitik entgegenkommst, habe ich nichts dagegen den Termin für die Freizügigkeit osteuropäischer Arbeitnehmer zu verschieben“ – heute funktioniere das aber nicht mehr. Gleich den Bauarbeitern des Turms zu Babel, verstünden sich die Europäer nicht mehr. „Statt Unverständnis dominiert die Verständnislosigkeit, die vor allem aus dem Austausch von Vorurteilen besteht.“

„So kann etwa die deutsche Politik den Widerstand in der Bevölkerung gegen weitere Hilfen an Griechenland nicht einfach ignorieren. Sie formuliert deshalb Forderungen, von denen sie eigentlich wissen muss, dass sie ökonomisch sinnlos sind. […] In Griechenland ist man auf diese Hilfe angewiesen. Also wird der Ministerpräsident Papandreou dazu gezwungen, die bisweilen dramatischen sozialen Folgen der Wirtschaftskrise zu ignorieren. Er wird zum Feind der eigenen Bürger gemacht. […] Am Ende fühlen sich die Bürger in beiden Staaten betrogen.“

Mit dieser Methode lassen sich keine existentiellen Fragen entscheiden, bemerkt die FAZ: Einen Kuhhandel zur Zukunft des Euro gebe es nicht. Indem sie zwischen Strenge und Nachgiebigkeit gegenüber Griechenland hin und her schwankten, vermieden die Regierungen eine klare Entscheidung. „In Brüssel kommandiert niemand. Die europäische Politik ist zu gar nichts entschlossen, weil sie in Wirklichkeit schon längst verschwunden ist. Sie will es allen Recht machen, den Erwartungen zorniger Wähler genauso wie den Finanzmärkten oder der EZB. Sie sucht nach einem Kompromiss in der alten Gemütlichkeit bewährter Nachtsitzungen“, und vergisst dabei, sich für eine Alternative zu entscheiden.

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