Olivier Ploux spain

Migrierende, historisches Gedächtnis und Rechte: Spaniens Kampf gegen das rechtsradikale Narrativ

Der Aufstieg der rechtsextremen Partei Vox in Spanien nutzt die Ängste vor Migrierenden und unbegleiteten Minderjährigen aus. Die Zivilgesellschaft wehrt sich jedoch mit migrierendenfreundlichen Gesetzen und Bemühungen, das historische Gedächtnis gegen franquistische Nostalgie zu bewahren, sowie mit LGTBI-Rechten.

Veröffentlicht am 4 Juni 2024

Im Lexikon der populistischen Rechten Spaniens gibt es ein Wort, das alle Ängste der identitären Nationalistinnen und Nationalisten bündelt: „mena“, ein Akronym für menor extranjero no acompañado (unbegleitete(r) ausländische(r) Minderjährige(r)). Diese juristische Bezeichnung bezieht sich auf Migrierende unter 18 Jahren, die ohne ihre Familien in Spanien ankommen und um die sich der Staat kümmern muss.

In extremistischen Kreisen wird eine Rhetorik über „mena“ verbreitet, die sogar auf Plakaten auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln zu sehen ist. Die betreffenden Minderjährigen werden beschuldigt, gewalttätig zu sein, ihre friedlichen Nachbarinnen und Nachbarn einzuschüchtern und die Sozialhilfe auf Kosten der Einheimischen auszuschöpfen. Kurz gesagt: Sie sind ein Ärgernis und sollten ausgewiesen werden.

Die Argumente sind fadenscheinig, finden aber bei einem bestimmten Teil der Bevölkerung Anklang. Nach den neuesten Daten (April 2024) des Centro de Investigaciones Sociológicas, einer öffentlichen Einrichtung, die für die Erhebung der Präferenzen der Gesellschaft zuständig ist, würden 10 % der Spanier*innen heute bei einer Parlamentswahl für Vox stimmen, die rechtsextreme Partei, die vor etwas mehr als einem Jahrzehnt aus einer Spaltung der konservativen spanischen Partei Partido Popular (PP) hervorgegangen ist. Vox ist bereits in den Koalitionsregierungen mehrerer spanischer Regionen vertreten. Spanien ist aufgrund seiner geografischen Lage ein Tor von Afrika nach Europa, und Vox hat die Dämonisierung minderjähriger Migrierender zu einem ihrer wichtigsten politischen Trümpfe gemacht.


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Die spanische Zivilgesellschaft hat mit einer erfolgreichen Kampagne auf diese rassistische Rhetorik reagiert und hat es geschafft, damit die Thesen von Vox praktisch zu übertönen. Die Bewegung Esenciales, die von mehr als 900 Nichtregierungsorganisationen (NRO) unterstützt wird, hat letzten Monat im spanischen Unterhaus eine Gesetzesinitiative durchgesetzt, die genau das Gegenteil von dem vorsieht, was die Extremisten befürworten: Sie würde mehr als 500.000 Migrierende ohne Papiere legalisieren. Der Gesetzentwurf wurde in erster Lesung mit einer überwältigenden Mehrheit verabschiedet: 310 Stimmen dafür und 33 dagegen. Und die ganze Angelegenheit hat in den Medien kaum Kontroversen ausgelöst. Wie war das möglich?

Laut Gonzalo Fanjul, Forschungsdirektor der Stiftung porCausa und einer derjenigen, die im Kongress für die Legalisierung sprachen, bestand die Strategie darin, „ein Narrativ zu schaffen, das das der extremen Rechten ersetzt“, ohne auf deren Postulate einzugehen. „Wir haben kein Interesse daran, mit denen zu streiten, die glauben, dass die Erde flach ist“, sagt Fanjul.


„Ein Teil der Gesellschaft hat verstanden, dass es nicht vernünftig ist, dass politische Parteien uns zu Wahlkampfzwecken in eine kollektive Hysterie verwickeln“ – Gonzalo Fanjul, Stiftung porCausa


Die Initiative, die aus den Migrierendengemeinschaften selbst hervorgegangen ist, hat mehr als 600.000 Unterschriften von einfachen Spanierinnen und Spaniern erhalten. Sie appelliert nicht nur an die Solidarität, sondern auch an wirtschaftliche Beweggründe, wie die Aussicht auf die Steuerbeiträge der Migrierenden. Sogar die katholische Kirche und Wirtschaftsverbände unterstützten den Gesetzesentwurf, der noch gesetzgeberische Hürden überwinden muss, aber durchaus in Kraft treten kann.

„Ein Teil der Gesellschaft hat verstanden, dass es nicht vernünftig ist, dass politische Parteien uns zu Wahlkampfzwecken in eine kollektive Hysterie verwickeln“, argumentiert Fanjul. Er glaubt, dass Vox und die extreme Rechte „nichts verstanden haben, weil sie eine essentialistische und hyper-identitäre Vorstellung von Spanien haben, die ein Land von vor einem Jahrhundert widerspiegelt, das nicht mehr existiert“.

Das historische Gedächtnis verteidigen

Die Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs, dessen 90. Jahrestag im Jahr 2026 gedacht wird, dauert bis heute an. Fast fünf Jahrzehnte nach dem Ende der Franco-Diktatur ist die Erinnerung an die besiegte Seite in vielen Fällen buchstäblich begraben. Die jüngsten Mitte-Links-Regierungen unter Führung der Sozialistischen Partei (PSOE) waren bereit, die Exhumierung der Tausenden von Massengräbern in ganz Spanien zu finanzieren, in denen die sterblichen Überreste von Republikanerinnen und Republikanern liegen, die im Kampf und bei Repressalien ums Leben kamen. Diese Bemühungen werden jedoch von der extremen Rechten und sogar von den konservativen Parteien torpediert.

„In Spanien gab es keine Entnazifizierung wie in Deutschland, weil die Rechtsextremen hier gewonnen haben“, sagt Enrique Gómez, Präsident der Asociación por la Recuperación de la Memoria Histórica in Aragonien. Diese Region im Nordosten Spaniens genießt gemäß der dezentralisierten Verfassung des Landes eine weitgehende Selbstverwaltung.

Nach den Regionalwahlen im vergangenen Jahr kam in Aragonien zum ersten Mal eine Koalition aus PP und Vox an die Macht. Zu den ersten Maßnahmen der neuen Regierung gehörte die Aufhebung des aragonesischen Gesetzes über das historische Gedächtnis. Dadurch wurde es schwieriger, Massengräber zu exhumieren oder sogar Informationsvorträge für Kinder in Schulen zu halten. „Sie erlassen Gesetze gegen das Gesetz“, sagt Gómez. Er erzählt, wie seiner Organisation sogar Sitzplätze bei einer Routineveranstaltung zum Gedenken an die Gefallenen der antifaschistischen Seite im Bürgerkrieg verweigert wurden.

Die spanische Zivilgesellschaft reagierte darauf mit verstärkten Bildungsanstrengungen und dem Aufbau von Verbindungen zu Vereinigungen in anderen Regionen. „Seltsamerweise sind wir aktiver als je zuvor“, sagt Enrique Gómez. Es gibt viele Gedenkausstellungen, und die Schulleiter*innen setzen sich über das Verbot hinweg und nehmen das Thema in den Lehrplan auf. Er ist mit dieser Reaktion zufrieden: „Es gibt Leute, die verstehen, dass wir einfach nur unsere Toten begraben wollen, und sie beziehen Stellung.“

LGTBI-Rechte in Gefahr

Selbst in Madrid, einem der freundlichsten Orte Spaniens für die LGBTI-Gemeinschaft, ist der rechtsextreme Diskurs auf dem Vormarsch. Von der regionalen PP-Regierung wurden zwei Gesetze verabschiedet, die sich gegen die Transgender-Gemeinschaft richten. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr hat die PP eine absolute Mehrheit errungen, die es ihr erlaubt, allein zu regieren.

Eines der Gesetze streicht das Konzept der „Geschlechtsidentität“ aus dem Gesetz und öffnet damit laut Amnesty International erneut die Tür für die Anwendung von Konversionstherapien, die von zahlreichen internationalen Organisationen abgelehnt werden. Die spanische Regierung hat das Gesetz kritisiert und erwägt, es wegen Verletzung der Verfassung anzufechten.

Die erste Reaktion erfolgte jedoch auf der Straße, wo Aktivistinnen und Aktivisten im Zentrum der Hauptstadt demonstriert haben. Und ihre Bewegung wird aller Voraussicht nach bei den Gay-Pride-Paraden im Juli unübersehbar sein.

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