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Ring frei für die Farblosen

Auch wenn sie nicht auf der Tagesordnung des Brüsseler EU-Gipfels am 29. Oktober steht, so wird die Frage dennoch in allen Köpfen kreisen: Wer wird das neue Gesicht der EU? Wer die Stimme der "berühmten Telefonnummer", welche Henry Kissinger vergeblich suchte? Die europäische Presse gibt ihre Tipps ab.

Veröffentlicht am 29 Oktober 2009 um 14:52
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Die Kandidaten wärmen sich auf. Der Ring wartet nur auf sie. Kein Zweifel besteht daran, dass man eifrig gegen die Klimaerwärmung wettern wird. Aber ein anderer Kampf, der weniger redlich ist, wird im Europäischen Rat ausgetragen. Noch ist der Vertrag von Lissabon nicht einmal ratifiziert und dennoch kursiert schon eine inoffizielle Liste mit Namen für den zukünftigen Präsidenten der EU. Vor allem zwei Kandidaten liefern sich den Konkurrenzkampf um den Spitzenposten. Um den seit einigen Wochen als Favorit geltenden ehemaligen britischen Regierungschef der Labour-Partei, Tony Blair, gibt es ebenso viel Lob wie Kritik. Der nun zum offiziellen Kandidaten erklärte luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker besteigt den Ring ganz beiläufig. "Wenn man mir ein Angebot macht, so habe ich keinen Grund, dieses abzulehnen", erklärte er Le Monde in einem langen Interview.

Braucht man eher einen charismatischen Anführer, den das Volk liebt, oder einen kompromissbereiten und gemäßigten Moderator? Ein Schwer- oder ein Leichtgewicht? Tony Blair und Jean-Claude Juncker verkörpern diese Alternative nur allzu gut. Die pro-Blair gesonnene italienische Tageszeitung Il Foglio gibt ihre Zweifel an der "Europygmäe" Juncker ganz offen zu (Dieser von The Economist geprägte Begriff bezeichnet alle "kleinen" Kandidaten, die gegen den ehemaligen britischen Regierungschef antreten). Die italienische Tageszeitung schreibt: "Derjenige, der Tony Blair herausfordert ist der Regierungschef eines Landes, welches so groß ist wie die Provinz Ancona. […] Hinter ihm steht das Alte Europa, das Europa der Paris-Berlin-Achse, des überholten Gleichgewichts der Mächte und einer bürokratischen Auffassung der EU. Juncker ist das ganze Gegenteil von Blair. Es fehlt ihm an Ausstrahlung und politischem Ehrgeiz. Auch würde er sich damit zufriedenstellen, die Tagesordnung der 27 festzulegen und demütig Kompromisse auszuhandeln". In den Spalten von Le Monde sieht es ganz so aus, als erwidere ihr der Luxemburger: "Ich bin kein Zwerg". Der Beweis: "Mit Wladimir Putin verbinden mich freundschaftliche Beziehungen und seit langem kenne ich die führenden Politiker Chinas", verteidigt er sich.

Balkenende, Gipfel der Geschmacklosigkeit

"Die Kandidatur Jean Claude Junckers könnte aber auch ein Racheversuch [im Namen der Beneluxstaaten] sein. 2004 hatten die Briten verschiedenste Aktionen gegen den ehemaligen belgischen Regierungschef Guy Verhofstadt gestartet, um die EU-Ratspräsidentschaft zu besetzen", kommentiert El País. Blair hatte damals alles getan, um die Kandidatur des belgischen Liberalen aufzuhalten.

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Ein anderer Kandidat in der Kategorie Federgewicht ist der niederländische Regierungschef Jan Peter Balkenende. Der Leitartikler von De Volkskrant bemerkt ironisch: "Vorbei sind die Zeiten der großen europäischen Führungsfiguren. Diese Visionen gehören der Vergangenheit an". "Die Großen haben aber keine Lust auf jemanden, der sich in alles einmischt und Präsident spielt". Tony Blair "sollte sich vielmehr vor so faden und langweiligen Kandidaten wie [Balkenende] oder noch schlimmer in Acht nehmen. Jean-Claude Juncker ist ebenso öde wie Paavo Lipponen und auch Herman van Rompuy scheint sich in der Rolle der ermüdenden Nervensäge bestens auszukennen. Balkenende muss gewarnt werden".

Gazeta Wyborcza fasst das alles kurz und bündig zusammen: Balkenende ist so langweilig, dass keine einzige europäische Hauptstadt ihn als glaubwürdigen Mitbewerber auch nur wahrnimmt. Für die polnische Tageszeitung ist dies aber genau der Grund dafür, dass Jan Peter Balkenende realistische Chancen hat, den Präsidentschaftstitel nach Hause zu tragen.

Die europäischen Spitzenpolitiker mauscheln wo sie können

Und auch wenn er noch nicht offiziell bekanntgegeben hat, dass er kandidiert, und sich eher zurückhält, so deutet doch alles darauf hin, dass Tony Blairs Gedanken ständig um die Präsidentschaft kreisen. Und das nicht nur, wenn er sich gerade rasiert. Nicolas Sarkozy war es, der ihn 2006 auf diesen Gedanken brachte. Er selbst war damals nur Innenminister. "Du bist der Richtige für den Posten", hätte er ihm gesagt. Um seine Zufriedenheit zu verstecken soll Tony Blair es vorgezogen haben, zu lachen. Einer seiner Mitarbeiter hat Le Monde nur anvertraut, dass "er sich geehrt, ganz einfach nur geehrt gefühlt hat".

Wenn man der Irish Times Glauben schenkt, so wird er als Gegner auch einen Iren haben. Als letzter Wettbewerbsteilnehmer hat der ehemalige Regierungschef (von 1994 bis 1997) John Bruton die Boxhandschuhe angelegt. Für seine überschäumende Ausstrahlung ist er nicht gerade bekannt. Dass er kandidieren wird, ist gerade erst bekanntgeworden, erklärt die irische Tageszeitung.

Die aus dem Nichts kommenden Kandidaturen und die allerorts veranstalteten vielfältigen Spekulationen eröffnen wieder einmal den Basar, seufzt der Spiegel. "Wie im Wiener Tortentempel mauschelt Europas politische Führung derzeit überall, in Stockholmer Amtsstuben, bei Abendessen in der Londoner Downing Street, im kleinen Arbeitszimmer des Luxemburger Premiers Jean-Claude Juncker und in den prunkvollen Gemächern Nicolas Sarkozys". Das alte System hat sich durchgesetzt: "Stützt du meinen Kandidaten, helf ich deinem, und gemeinsam schlachten wir die Konkurrenz. Gefährlich kluge allzu mutige oder gar populäre Kandidaten werden gewöhnlich als Erste aussortiert"… Der ehemalige Direktor des Kabinetts Tony Blairs, Matthew Doyle, weist in Le Monde darauf hin: "Was bringt es auch, Kampagne zu machen, wenn die Entscheidung von 27 Personen hinter verschlossenen Türen getroffen wird?"

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