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Sexistische und sexuelle Gewalt und Migration: Gibt es einen Zusammenhang? 

Das Argument, Einwanderer würden die Unsicherheit in unseren Gesellschaften erhöhen, zieht sich wie ein roter Faden durch die öffentliche Migrationsdebatte. Auch wird dort oft die alte Angst vor Fremden, die in „unsere Frauen und unser Territorium eindringen”, geschürt.

Veröffentlicht am 7 März 2025

Behauptungen:

„Es gibt leider mehr Fälle von sexueller Gewalt durch Einwanderer, vor allem illegale” - behauptet Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in der italienischen Frauenzeitschrift Donna Moderna. 

„Wir dürfen nicht so tun, als ob wir nicht sehen würden, dass die Zunahme sexueller Gewalt auch mit Formen der Marginalität und der Devianz zusammenhängt, die in gewisser Weise auf die illegale Einwanderung zurückzuführen sind”, meint auch der italienische Bildungsminister Giuseppe Valditara (Aussage von November 2024). 

Ebenfalls im November 2024 sagte Alice Cordier, Mitglied der Identitären Bewegung in Frankreich, dass „20 Prozent der sexuellen Gewalt gegen ältere Menschen auf das Konto von Ausländern” gehen.

 Marion Maréchal Le Pen behauptete im Mai 2024 im französischen Privatsender LCI, dass „77 Prozent der Straßenvergewaltigungen in Paris von Ausländern verübt wurden.”

Zusammenfassung: In den vergangenen Monaten haben mehrere führende Vertreter der europäischen Rechten und der extremen Rechten, insbesondere in Italien und Frankreich, die Anwesenheit von Ausländern (was nicht gleichbedeutend mit Einwanderern ist) mit dem Auftreten von Straftaten im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt in Verbindung gebracht. 


Dagegen heißt es in einem Openpolis-Artikel, der sich auf Eurostat-Daten stützt: „Trotz der Zunahme des ausländischen Bevölkerungsanteils sind die europäischen Gesellschaften nicht unsicherer geworden. Im Gegenteil, die Gesamtkriminalität ist leicht zurückgegangen.” Dennoch ist das Argument, dass die Einwanderung die Unsicherheit in unseren Gesellschaften erhöht, ein Leitmotiv, das in der öffentlichen Debatte regelmäßig auftaucht.

Jérôme Valette ist ein auf Migration spezialisierter Wirtschaftswissenschaftler am CEPII (Centre d'études prospectives et d'informations internationales in Frankreich). Gegenüber Voxeurop erklärt er: „Bei gleichen demografischen und sozioökonomischen Merkmalen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Einwanderer ein Verbrechen begehen, nicht größer als bei Einheimischen. Die Faktoren, die dazu beitragen, sind vielmehr Unsicherheit und Armut: „Männer, junge Menschen und Menschen in prekären Situationen sind in den Migrationsströmen oft überrepräsentiert.” Die Daten von Eurostat (hier von Openpolis grafisch dargestellt) zeigen beispielsweise, dass Ausländer in fast allen EU-Ländern einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt sind. Griechenland, Italien und Frankreich liegen auf den Plätzen zwei, drei und vier dieser Rangliste. 

Migration und geschlechtsspezifische Gewalt: Wo ist der Zusammenhang? 

Italien

Wie bereits erwähnt, sprach die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am 25. November 2024, dem internationalen Tag gegen männliche Gewalt an Frauen, in einem Interview mit der Zeitschrift Donna Moderna von einer Zunahme der Fälle sexueller Gewalt durch Einwanderer, ohne dabei Daten oder Quellen zu nennen. 

Ähnlich hatte sich bereits Italiens Bildungsminister Giuseppe Valditara geäußert in einem diesbezüglich unpassenden Kontext. Seine Behauptung hatte eine Kontroverse ausgelöst, als er eine Stiftung einweihte zum Gedenken an Giulia Cecchettin, die von ihrem Ex-Partner Filippo Turetta getötet wurde, wobei es sich um einen „weißen” Italiener handelt, der nicht akzeptieren konnte, verlassen zu werden. „Wir dürfen nicht so tun, als ob wir nicht sehen würden, dass die Zunahme der sexuellen Gewalt auch mit Formen der Marginalität und der Abweichung zusammenhängt, die in gewisser Weise auf die illegale Einwanderung zurückzuführen sind“, sagte Valditara in einer Videobotschaft, in der er auch betonte, dass das Patriarchat in Italien durch die Reform des Familienrechts im Jahr 1975 beendet wurde. 

Frankreich

Auch in Frankreich ist diese Idee in den letzten Jahren stark präsent in den Medien, was auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist, die zur Polarisierung der öffentlichen Debatte und zur Normalisierung eines Diskurses beitragen, der von Vertretern identitärer und reaktionärer Bewegungen geführt wird. Zu den Gründen dafür gehören der starke Wahlerfolg der extremen Rechten, eine ebenso starke Mediatisierung der Migrationsdebatten und die Macht der Bolloré-Gruppe, die an der Spitze eines Imperiums aus Radio, Presse und Fernsehen der extremen Rechten viel Raum gibt. 

Zu ihnen gehören Alice Cordier und das „Nemesis-Kollektiv“, deren Rede beispielsweise im vergangenen Januar vom französischen Innenminister Bruno Retailleau mit Bewunderung aufgenommen wurde. Das „Nemesis-Kollektiv“ ist eine französische, rechtsextreme und identitäre Gruppe, die sich selbst als „feministisch“ bezeichnet. Sie wurde 2019 gegründet und hat in den letzten Jahren in den Medien zunehmend an Bedeutung gewonnen. Einige ihrer Vertreter haben für Marine Le Pens Rassemblement national (RN, rechtsextrem) kandidiert oder Wahlkampf gemacht. Andere standen neonazistischen oder reaktionären katholischen Gruppen nahe, wie vielfach dokumentiert wurde. Das Alter der Aktivisten dieser Gruppe reicht von 18 bis 35 Jahren. 

Alice Cordier wurde 1997 geboren, war Mitglied der Action Française (einer Bewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts als Anti-Dreyfusianer-Bewegung entstand) und hat ihre Ausbildung am privaten Institut de formation politique (IFP) gemacht. Mehrere Medien haben die Verbindungen dieses Instituts zur Manif pour Tous-Bewegung (gegen gleichgeschlechtliche Ehe), zum reaktionären Katholizismus und zum rechtsextremen Milieu untersucht. 

Cordiers Argument ist einfach: Es bedarf eines „identitären Feminismus“ oder eines „rechten Feminismus“, weil die Feminismusbewegung hauptsächlich aus „linksextremen Feministinnen“ besteht, die ein (für sie) wesentliches Thema im Kampf für die Verteidigung der Frauen und gegen sexistische und sexuelle Gewalt leugnen: die „Raubvergewaltigung“, d. h. die Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum. 

Im Mai desselben Jahres stellte die rechtsextreme Europaabgeordnete Marion Maréchal fest: „77 Prozent der Straßenvergewaltigungen in Paris wurden von Ausländern begangen.” 

Die Entscheidung, sich auf dieses Problem zu konzentrieren, ist für die extreme Rechte strategisch „klug“. Es erlaubt ihnen, auf der Welle des Feminismus zu reiten und gleichzeitig mit dem Finger auf das reale Problem der sexuellen Gewalt zu zeigen, wobei sie Daten extrapolieren, um damit eine rassistische These zu untermauern. Darüber hinaus wird durch diese Position, ohne es ausdrücklich zu sagen, ein grundlegendes Problem geleugnet: Gewalt gegen Frauen zieht sich durch familiäre und alle sozialen Strukturen und wird in den meisten Fällen von Personen ausgeübt, die den Opfern nahestehen. Das Argument der Rechtsextremen ist also grundlegend falsch: Wenn es ihnen um die Sicherheit der Frauen ginge, würde sie an der Wurzel des Problems ansetzen, nämlich an der strukturellen Gewalt der Männer gegen Frauen, die keine Farbe hat. 

„Die Idee, dass Ausländer eine Gefahr für den öffentlichen Anstand darstellen und durch das Eindringen in den Körper der Frauen auch in das nationale Territorium vordringen wollen, ist alt. Sie wird von der extremen Rechten benutzt, um eine auf Ablehnung und Stigmatisierung basierende Migrationspolitik zu rechtfertigen“, erklärt die französische Anwältin Anne Bouillon, die sich seit mehr als 20 Jahren auf die Verteidigung von Opfern häuslicher und sexueller Gewalt spezialisiert hat. Sie ist außerdem Autorin des Buches Affaires de femmes. Une vie à plaider pour elles (L'Iconoclaste, 2024). 

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Einwanderung und sexueller Gewalt, haben wir auch sie gefragt. Ihre Anwort ist eindeutig: „Meine Erfahrung als Anwältin zeigt, dass Gewalt gegen Frauen aus allen sozialen Schichten kommt. Der größte gemeinsame Nenner von Frauen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer sozialen Schicht, ihrem Beruf oder ihrem Alter, ist, dass sie Gewalt durch Männer erleiden. Dabei gibt es kein Täterprofil, das man aufgrund von Herkunft, Religion, sozialem Milieu und Alter ausmachen könnte“, sagt Bouillon. 

“Wenn man die Überrepräsentation von Ausländern in der Kriminalitätsstatistik betrachtet, stellt man fest, dass sie 17 % der Angeklagten ausmachen, obwohl sie nur 8 % der Bevölkerung stellen. Wenn man sich auf sexuelle Gewalt konzentriert, sinkt diese Zahl auf 12 %, wodurch sich der Unterschied deutlich verringert”, fügt Jerome Vallette hinzu und erklärt, dass diese Zahlen „zum Beispiel darauf zurückzuführen sein könnten, dass viele Migranten Männer sind und sexuelle Gewalt hauptsächlich von Männern verübt wird.”

Was sagen die Daten?

Die Daten widerlegen oder relativieren den angeblichen Zusammenhang zwischen Einwanderung und einer Zunahme von sexuellen Gewaltdelikten. Der statistische Dienst des französischen Innenministeriums liefert Daten für das Jahr 2023. Diese besagen, dass 87 % der der Vergewaltigung (außerhalb des familiären Rahmens) beschuldigten Personen die französische Staatsangehörigkeit besitzen. Diese Daten sind allerdings nicht vollständig repräsentativ für den Moment der Datenerhebung, da viele Täter erst lange nach ihrer Tat angezeigt werden. Die Zahlen von Marion Maréchal Le Pen beruhen auf insgesamt 97 sexuellen Übergriffen, was ein Tropfen auf den heißen Stein ist, wenn es um Gewalt geht, die Frauen in Frankreich durch Männer erleiden. Sie sind ein winziger Bruchteil der insgesamt in Paris begangenen Übergriffe, wie zum Beispiel diese Arte-Reportage zeigt. 

In Italien wurden nach den aktuellsten Istat-Daten (2022) 5.775 Personen wegen sexueller Gewalt angezeigt oder verhaftet. Die letztgenannte Kategorie umfasst Verbrechen von Belästigung bis hin zu Vergewaltigung. Von den festgenommenen oder angezeigten Personen waren 3.340 Italiener und 2.435 Ausländer: 57,8 Prozent im Vergleich zu 42,2 Prozent Ausländern, wobei letztere 8,9 % der italienischen Bevölkerung ausmachen. 

Im Vergleich zu den französischen Daten sind die italienischen jedoch unvollständig, da sie sich nur auf die bei der Polizei eingereichten Anzeigen beziehen und nicht auf alle begangenen Gewalttaten. Außerdem betreffen die Anzeigen sehr unterschiedliche Straftaten (von Belästigung bis Vergewaltigung). Wie Istat mehrfach erklärte, gibt es in Italien nur wenige Frauen, die Anzeige erstatten (16 % derjenigen, die Gewalt erfahren haben, laut Daten von 2014), sodass diese Daten stark unterschätzt werden. Außerdem wird bei den erhobenen Daten nicht unterschieden, ob es sich bei den Tätern um reguläre oder irreguläre Einwanderer handelt.

Aktuellere und detailliertere Informationen liefern Berichte von Verbänden, die sich mit der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt befassen. Nach den neuesten Daten, die sich auf das Jahr 2023 beziehen, sind 74 Prozent der den Zentren gemeldeten Gewalttäter Italiener, die restlichen 26 Prozent sind Ausländer. Wie die ISTAT-Daten zu geschlechtsspezifischen Tötungsdelikten (letzter Bericht zu den Daten 2023) bestätigen, wird die Gewalt in 74,2 % der Fälle von einem Mann ausgeübt, der in einer emotionalen Beziehung zu einer Frau steht (Partner oder Ex-Partner). Rechnet man den Prozentsatz der Fälle hinzu, in denen der Täter ein Familienmitglied ist, kommt man auf 84 Prozent der Gesamtzahl.

„Bildungsminister Giuseppe Valditara sprach von 'unumstößlichen Daten', aber in Wirklichkeit besteht das erste Problem darin, dass es keine offiziellen Datenbanken gibt, in denen aufgeschlüsselte Daten über geschlechtsspezifische Gewalt zu finden sind. So lässt sich beispielsweise nicht feststellen, wie viele Straftaten von regulären und wie viele von irregulären Einwanderern begangen werden. Aber Valditara spricht von 'irregulären Einwanderern', ohne dabei eine Quelle für die Daten zu nennen, auf denen seine Behauptungen beruhen“, kommentiert die Journalistin und Schriftstellerin Donata Columbro, Autorin des Essays Quando i dati discriminano. Bias e pregiudizi in grafici, statistiche e algoritmi (Il Margine, 2024).

„Aus den ISTAT-Daten geht eindeutig hervor, dass Italiener die meisten Straftaten im Zusammenhang mit sexueller Gewalt begehen und man muss auch sagen, dass diese Zahl wahrscheinlich unterschätzt wird. Denn wir wissen, dass Vergewaltigungen häufiger angezeigt werden, wenn der Täter ein Fremder ist, während Gewalt, die von Familienmitgliedern oder Partnern ausgeübt wird, nicht gemeldet wird. Tatsächlich muss diese Art von Gewalt von Frauen, die in einer missbräuchlichen Beziehung leben, erst erkannt werden, und dies geschieht in der Regel am Ende eines langen Prozesses, der nur in einigen Fällen zu einer Anzeige führt. ISTAT-Studien aus den Jahren 2006 und 2014 haben ganz klar gezeigt: In den meisten Fällen findet die Gewalt im häuslichen Bereich statt und der Täter ist kein Fremder“, so Columbro abschließend.

Annalisa Camilli von Internazionale hat zu diesem Artikel beigetragen
Dieser Artikel wurde mit Unterstützung des Europäischen Medien- und Informationsfonds (EMIF) erstellt. Die alleinige Verantwortung für die vom Europäischen Medien- und Informationsfonds unterstützten Inhalte liegt bei den Autoren und spiegelt nicht unbedingt die Positionen des EMIF und der Fondspartner, der Calouste Gulbenkian Foundation und des European University Institute wider.

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