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Können syrische Flüchtlinge in Europa nach Hause zurückgeschickt werden?

Direkt nach dem Sturz des Assad-Regimes verkündeten mehrere EU-Länder, die Asylanträge syrischer Bürger nicht mehr bearbeiten zu wollen. Rechtsextremisten schlugen vor, syrische Flüchtlinge auszuweisen. Aber erlaubt das Gesetz, sie in ihr Herkunftsland zurückzuschicken?

Veröffentlicht am 11 März 2025

Die zu überprüfende Forderung: Seit dem Sturz des syrischen Regimes am 8. Dezember 2024 haben Politiker mit Verbindungen zur extremen Rechten vorgeschlagen, syrische Flüchtlinge auszuweisen und zurückzuschicken. Mehrere europäische Länder - Frankreich, Deutschland, Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Schweden, Griechenland und Italien - kündigten die Aussetzung der Prüfung von Asylanträgen syrischer Bürger an. 

Der Hintergrund: Die Machtübernahme durch syrische Rebellen hat zum Ende des Regimes von Baschar al-Assad geführt. Die Islamisten-Miliz Hayat Tahrir al-Cham (HTC) beendete damit den Bürgerkrieg, der mit dem Aufstand im März 2011 begonnen hatte. Das - so das Argument - bedeute eine Rückkehr zur Normalität im Land. Die Bedingungen, unter denen syrische Staatsbürger in Europa Asyl beantragen können, wären damit nicht mehr erfüllt, sodass die europäischen Länder die Prüfung von Asylanträgen rechtmäßig ablehnen und syrische Flüchtlinge in ihr Land zurückschicken können.


Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) gab es im ersten Halbjahr 2024 rund 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge und fast 124.000 Asylbewerber in der Europäischen Union. In Italien gibt es 3.500 syrische Flüchtlinge und etwas mehr als 250 Asylbewerber.

Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Begriffe „Asylbewerber“, „Flüchtlinge“ und „Staatenlose“ oft verwechselt.

Definitionen
Asylbewerber sind Menschen, die ihr Land aus Furcht vor Verfolgung oder Verletzung ihrer Rechte verlassen und in einem anderen Land rechtlichen Schutz suchen.
Der Flüchtlingsstatus hingegen ist eine der Arten von Rechtsschutz, die einem Asylbewerber gewährt werden können, sofern er oder sie bestimmte Voraussetzungen erfüllt.
Der subsidiäre Schutz hingegen ist ein anderer, weniger schützenswerter Status, der für Antragsteller bestimmt ist, die nicht die Voraussetzungen für den Flüchtlingsstatus erfüllen.
Der Status der Staatenlosigkeit hingegen betrifft Personen, denen die Staatsangehörigkeit entzogen wurde, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.

Es besteht also kein Zweifel: Jeder syrische Flüchtling wird im rechtlichen Sinne des Wortes vom Staat anerkannt, der ihm Schutz und eine Aufenthaltsgenehmigung gewährt. Die Aussetzung der Prüfung von Asylanträgen richtet sich jedoch nicht gegen syrische Flüchtlinge, sondern gegen Asylbewerber, d. h. gegen Personen, die internationalen Schutz beantragt haben.

Die Entscheidung, diese Anträge auszusetzen, betrifft also, wie im Falle Italiens, die letztgenannte Personengruppe.


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Italien

Filippo Ungaro, Sprecher des UNHCR in Italien, erklärte in einem Interview mit Internazionale, dass „manche EU-Staaten die Entscheidung über Anträge von Syrern auf internationalen Schutz ausgesetzt haben, bis sich die Lage im Land stabilisiert hat und verlässliche Informationen über die Sicherheits- und Menschenrechtssituation vorliegen, um den internationalen Schutzbedarf der einzelnen Antragsteller zu beurteilen“.

Für das UNHCR ist es angesichts der unsicheren Lage in Syrien jedoch „nach wie vor von entscheidender Bedeutung, dass die Menschen weiterhin Asyl beantragen können. Ebenso müssen syrische Asylbewerber, die auf eine Wiederaufnahme des Entscheidungsprozesses über ihre Anträge warten, weiterhin die gleichen Rechte wie alle anderen Antragsteller genießen, auch in Bezug auf die Aufnahmebedingungen“.

Nach Ansicht des UNHCR kann Syrien derzeit nicht als sicheres Land betrachtet werden. Daher darf kein Druck auf Flüchtlinge in Europa ausgeübt werden, damit sie in ein Land zurückkehren, in dem eine ernste humanitäre Krisensituation herrscht. Ungaro bekräftigt: „Angesichts der sich rasch ändernden Umstände in Syrien und der großen Unsicherheit über die kurz- und mittelfristigen Entwicklungen ist das UNHCR derzeit nicht in der Lage, detaillierte Angaben zu den Risikofaktoren für syrische Asylbewerber zu machen, die zu einem internationalen Schutzbedarf führen könnten. Heute sind mehr als 90 Prozent der Syrer im Land auf humanitäre Hilfe angewiesen“.

Frankreich

In Frankreich werden Asylanträge vom Amt für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (Ofpra) geprüft. Wenn die Ofpra die Prüfung eines Antrags nicht ablehnen kann, kann sie dennoch beschließen, die Prüfungen vorübergehend auszusetzen. Dies hat sie am 9. Dezember nach dem Sturz des Regimes von Bashar al-Assad getan und ist seitdem nicht von ihrer Entscheidung abgerückt. 2023 wurden 4.465 Anträge gestellt, im Jahr 2024 etwa 2.500. Nach Angaben des Amtes befinden sich 700 Anträge noch in der Bearbeitung.

In Frankreich sind die Bedingungen für die Beendigung des internationalen Schutzes gesetzlich festgelegt“, erklärt Claudia Charles von der Gisti (Groupe d'Information et d'équipement et d'aménagement aux immigrants). Dieses Recht stützt sich auf die Genfer Konvention, die den Flüchtlingsstatus und seine Bedingungen regelt. Darin ist festgelegt, dass dieser Status beendet werden kann, wenn „die Umstände, aufgrund derer eine Person als Flüchtling anerkannt wurde, nicht mehr bestehen und die betreffende Person sich nicht länger weigern kann, den Schutz des Landes zu suchen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt“.

Einfacher ausgedrückt: Wenn die Situation, welche die Ausreise veranlasst hat - also die Furcht vor Verfolgung aufgrund von Herkunft, Religion, Meinung usw. - nicht mehr gegeben ist, kann der Flüchtlingsstatus wieder aberkannt werden. Überprüft werden muss also, ob sich die politische Lage in dem betreffenden Land grundlegend geändert hat und ob ein Rechtssystem geschaffen wurde, das die Grundrechte im gesamten Hoheitsgebiet wirksam garantiert.

Der subsidiäre Schutz, ein Status, der weniger Schutz bietet als der Flüchtlingsstatus, kann aus ähnlichen Gründen widerrufen werden. Ein möglicher Widerruf bei Betrug oder schwerer Kriminalität wird ebenfalls erwähnt. Die Prüfung muss jedoch von Fall zu Fall erfolgen, betont Claudia Charles.

Der Widerruf oder die Nichtverlängerung eines Aufenthaltstitels - was zu einer Ausweisung führen kann - ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich, insbesondere wenn die betreffende Person strafrechtlich verurteilt wurde oder eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Die tatsächliche Ausweisung unterliegt ebenfalls dem französischen Recht. Die Bearbeitung der Anträge erfolgt in jeder Phase selbstverständlich von Fall zu Fall.

Angesichts der instabilen politischen Lage in Syrien scheint eine Rückkehr der syrischen Flüchtlinge vorerst unmöglich. In einer am 17. Dezember veröffentlichten Erklärung schreibt das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge: „Das UNHCR hat eine aktualisierte Stellungnahme zu Rückführungen nach Syrien veröffentlicht, in der der Grundsatz der Nichtzurückweisung (bzw. keine erzwungene Rückführung) und das Recht der Syrer auf Asyl betont wird. Die Schutzrisiken im Zusammenhang mit der Verfolgung durch die frühere Regierung haben zwar abgenommen, doch können andere Risiken für besonders gefährdete Gruppen fortbestehen oder neu entstehen.“

Für Gianfranco Schiavone, Präsident des italienischen Solidaritätskonsortiums von Triest und Experte für Migrationsrecht der Association for Legal Studies on Immigration (Asgi), muss klargestellt werden, dass die Rückführungen, die (seit dem 9. Dezember) in Syrien aus dem Libanon und der Türkei stattfinden, freiwillig sind und keine direkten Auswirkungen auf die Situation der Syrer in der Europäischen Union haben:

„In Europa haben wir spezifische und garantierte Regelungen für den internationalen Schutz. Wir müssen auch die materiellen Bedingungen der Syrer im Libanon oder in der Türkei im Vergleich zu denen in Europa bewerten. Syrer im Libanon leben in prekären Verhältnissen und haben teilweise keinen rechtlichen Schutz. Manche haben nicht einmal eine Aufenthaltsgenehmigung für bestimmte Länder in der Region. Diese Situation ist nicht mit der von Menschen zu vergleichen, die seit Jahren in der Europäischen Union leben und sich überlegen, welche Entscheidungen sie in Zukunft treffen wollen“.

Sollte sich die Sicherheitslage in Syrien ändern, wäre es möglich, dass manche EU-Länder denjenigen, die bereits den Flüchtlingsstatus erhalten haben, diesen wieder entziehen. Laut Schiavone ist dies jedoch ein sehr langwieriger Prozess: „Das europäische Recht […] sieht die Möglichkeit vor, den internationalen Schutz zu entziehen, wenn der Schutzbedarf nicht mehr gegeben ist, aber im Moment ist es unmöglich, eine entsprechende Maßnahme für Syrer zu ergreifen, da in dem Land absolute Unsicherheit herrscht. In jedem Fall würde es sich um individuelle Maßnahmen handeln“.

Anfang März kam es in der Küstenregion zu heftigen Kämpfen zwischen der HTC und den alawitischen Kräften, die dem Assad-Regime treu ergeben sind. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (einer in London ansässigen NRO) wurden bis zum 7. März mehr als 70 Menschen getötet und Dutzende verletzt. Dies hat die Übergangsregierung veranlasst, eine Ausgangssperre in den Hafenstädten Latakia und Tartus zu verhängen. Auch aus den Städten Homs und Aleppo wurden Zusammenstöße gemeldet. Vor diesem Hintergrund ist es umso unwahrscheinlicher, dass Syrien in absehbarer Zeit den Status eines sicheren Herkunftslandes erhalten wird.

Dieser Artikel wurde mit Unterstützung des Europäischen Medien- und Informationsfonds (EMIF) erstellt. Die alleinige Verantwortung für die vom Europäischen Medien- und Informationsfonds unterstützten Inhalte liegt bei den Autoren und spiegelt nicht unbedingt die Positionen des EMIF und der Fondspartner, der Calouste Gulbenkian Foundation und des European University Institute wider.

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