Nachrichten Thomas Piketty über Kapital und Ideologie

Ungleichheiten in 10 Grafiken erklärt

Die 1200 Seiten von Thomas Pikettys neuem Buch „Capital et idéologie“ enthalten mehr als 160 Grafiken und rund zehn Tabellen, die es ermöglichen, zweieinhalb Jahrhunderte Geschichte der Ungleichheiten auf andere Weise zu erzählen. Hier ist eine Auswahl davon.

Veröffentlicht am 17 September 2019 um 14:38

Der Ökonom und Sammler von Zahlen baut seine Analysen auf einer beeindruckenden Vielfalt von Daten auf, anhand der die zweieinhalb Jahrhunderte lange Geschichte der Ungleichheiten sowie der Ideen, die zu ihrer Rechtfertigung vorgelegt wurden, auf eine andere Weise erzählt werden kann. Es handelt sich um einen alternativen Ansatz, sich diesem Monument zu nähern.

Entgegen aller Vermutungen stellte die Französische Revolution die Konzentration des Reichtums nicht in Frage. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg war diese noch stärker als zur Zeit des Ancien Régime! Die eigentliche Revolution fand im 20. Jahrhundert statt, und zwar mit der Entwicklung einer wohlhabenden Mittelschicht, d. h. die reichsten zehn Prozent verloren gegenüber den nachstehenden 40 Prozent Gewicht. Allerdings hat der am wenigsten begünstigte Teil der Bevölkerung noch nie mehr als zehn Prozent des Vermögens besessen.

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Die finanzielle Globalisierung des späten 19. Jahrhunderts spielte eine wichtige Rolle bei der Konzentration der Besitztümer. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg machten ausländische Investitionen einen bedeutenden Teil des Vermögens der reichsten Briten und der reichsten Franzosen aus. Mit dem Zusammenbruch aller Märkte zwischen den beiden Weltkriegen und der nach 1945 eingeführten öffentlichen Finanzregulierung wurden sie zu den ersten Opfern von Finanzschwankungen. Heute sind ausländische Investitionen auch in Japan und Deutschland sehr präsent, allerdings in geringerem Maße als in der vorangegangenen Phase der Globalisierung.

Die Entstehung einer wohlhabenden Mittelschicht im 20. Jahrhundert ist zum Teil auf den Wertverlust der Besitztümer (Immobilien, Berufs- und Finanzwerte) der Vermögendsten zurückzuführen. Die durch Kriege verursachten Zerstörungen erklären nur ein Viertel dieses Rückgangs. Ein Drittel bis die Hälfte spiegelt die Tatsache wider, dass ein großer Teil der Ersparnisse der Reichsten in öffentliche Schuldverschreibungen investiert wurde, deren Wert aufgrund von Inflation und außergewöhnlichen Steuern auf fast null gesunken ist. Der letzte Teil lässt sich durch politische Entwicklungen erklären, die darauf abzielen, die Rechte der Eigentümer einzuschränken (Mietpreisbindung, etc.).

Das Wachstum einer wohlhabenden Mittelschicht wurde durch den Wertverlust des Vermögens der Wohlhabendsten, aber auch durch eine geringere Konzentration des Vermögens ermöglicht. Die progressive Steuerpolitik des 20. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre ermöglichte die Umverteilung von Besitztümern. Seitdem hat die Steuerpolitik zugunsten der Reichsten zu einem Wiederanstieg der Ungleichheiten beigetragen.

Die ärmsten Franzosen legen ihr Geld hauptsächlich auf ihren Girokonten bei der Bank an. Schaut man sich die höheren Ebenen der Einkommens-Hierarchie an, spielen Immobilien eine immer wichtigere Rolle, gefolgt von Investitionen auf den Finanzmärkten (Aktien, Anleihen, usw.). Letztere machen für die wohlhabendsten ein Prozent den Großteil aus, und entsprechen 86 Prozent des Vermögens der reichsten 0,1 Prozent. Eine Steuerpolitik, welche die Besteuerung von Finanzerträgen reduziert, ist für die Reichsten der Reichen sehr wichtig.

Thomas Piketty bietet eine soziologische Analyse der Wahlergebnisse an, und zwar nach Bildungs-, Einkommens- und Vermögens-Niveau. Er zeigt, dass die sozialdemokratischen Parteien in Frankreich, dem Vereinigten Königreich, den USA und anderen Ländern, so unterschiedlich sie auch sein mögen, alle die gleiche Entwicklung durchgemacht haben: Von den 1950er bis zu den 1980er Jahren sammelten sie die Stimmen der am wenigsten Qualifizierten und der Ärmsten. Im Laufe der Zeit wurden sie dann zur Partei der am besten Qualifizierten.

Indem sie die Benachteiligten ihrem Schicksal überlassen haben, feierten diese Parteien das Eigentumsrecht und stützten sich dabei auf seine emanzipatorische Dimension: Jeder hat das Recht, etwas zu besitzen und vom Schutz des Staates zu profitieren, um es zu bewahren. Dabei vergaßen sie allerdings seine ungleiche Dimension: Die Reichsten häuften grenzenlos Eigentum an.

Im 20. Jahrhundert kam es zu einem starken Anstieg der Bildungsausgaben. Nach und nach schulten die Länder die gesamte Altersgruppe in der Primar- und dann der Sekundarstufe. Aber es war nicht möglich, die gesamte Bevölkerung ein Hochschulstudium absolvieren zu lassen. Nichtsdestotrotz haben die Regierungen – und insbesondere die sozialdemokratischen – nicht versucht, die Ungleichheiten beim Zugang zur Ausbildung abzubauen.

Europa ist nicht mehr attraktiv, weil es sich von einem großen Teil der Europäer abgeschottet hat. In Frankreich gewann das ‚Ja‘ beim Referendum über den Vertrag von Maastricht 1992 dank der Best-Qualifizierten und der Top-Verdiener. Im Jahr 2005 scheiterte das Referendum für eine europäische Verfassung: Die Franzosen lehnten das Projekt ab. Die Union verlor viel Unterstützung. Seither ist sie nur noch für die reichsten 20 Prozent und die qualifiziertesten 10 Prozent attraktiv.

Im Jahr 2016 wiederholte sich das gleiche Phänomen im Vereinigten Königreich. 40 Prozent der Reichsten stimmten dafür, in der Union zu verbleiben, und nur 20 Prozent der höchsten Einkommen und Best-Qualifizierten folgten ihnen. Aufgrund der Tatsache, dass Europa nicht in der Lage ist, auf zunehmende Ungleichheiten zu reagieren, bzw. diese sogar mit einigen seiner Entscheidungen verschärft, hat es jede Unterstützung der breiten Masse der Bevölkerung verloren.

Schaut man sich unterdessen längere Zeiträume an, wird deutlich, dass die Ungleichheiten in Frankreich und Europa noch nicht die Höhepunkte der Belle Epoque erreicht haben. Heutzutage scheint der Nahe Osten der ungerechteste Teil der Welt zu sein. Aber es geht auch noch schlimmer: Historisch betrachtet zeichnen sich Kolonialgesellschaften durch das höchste Maß an Ungleichheiten aus.

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