Bei der Stichwahl um die Spitzenkandidatur der Demokratischen Partei am 2. Dezember in Rom.

Unsichere Prognose für Volksparteien

Die italienischen Wähler kühren Pierluigi Bersani zum Spitzenkandidaten der linksliberalen Demokratischen Partei. Damit streuen sie Zweifel gegen die verbreitete Meinung, dass die Eurokrise am bestehenden System der politischen Parteien in Südeuropa rüttele.

Veröffentlicht am 4 Dezember 2012 um 16:14
Bei der Stichwahl um die Spitzenkandidatur der Demokratischen Partei am 2. Dezember in Rom.

Dem Erfolg Pier Luigi Bersanis Signalwirkung zuzuschreiben könnte sich als Trugschluss erweisen, schreibt Tony Barber in der Financial Times. Der ehemalige Kommunist habe zwar dank der Unterstützung seiner gewerkschaftlichen Basis den Newcomer-Konkurrenten Matteo Renzi aus dem Rennen um die Spitzenkandidatur der Demokratischen Partei geworfen.

Sowohl in Italien als auch im ganzen Mittelmeerraum sind die Aussichten für die traditionellen Parteien jedoch gemischter als man aus Bersanis Erfolg schließen könnte. Die vielsagendste Entwicklung in der italienischen Politik bleibt die Auflösung des Mitte-Rechts-Lagers, das auf der nationalen Bühne seit 1994 dominierte. Die Partei des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, Popolo della Libertà (Volk der Freiheit), früher Forza Italia (etwa: Aufschwung Italien), weicht eilends zurück. Ein großer Teil ihrer Unterstützung fließt – zum Teufel beider Sippschaft, wie es bei Shakespeare heißt – an die eigentümliche „Fünf-Sterne“-Bewegung des Komikers Beppe Grillo ab. [...]

Griechenland ist das deutlichste Beispiel für den Zusammenbruch der etablierten Ordnung. Bis zur Schuldenkrise 2009 war die Politik seit dem Ende der Militärherrschaft 1974 von zwei Parteien kontrolliert worden: von der konservativen Neuen Demokratie und der sozialistischen Pasok. Doch in den Parlamentswahlen vor sechs Monaten kamen die beiden Parteien zusammen nur auf knapp 42 Prozent der Stimmen.

Anderswo in Südeuropa, auf der iberischen Halbinsel zum Beispiel, schienen traditionelle Partein widerstandsfähiger:

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Die Parteiensysteme, die in Spanien und Portugal nach den demokratischen Transitionen der 1970er Jahre aufgebaut wurden, halten vorerst noch besser stand als das griechische. Auf nationaler – wenn auch in Spanien nicht auf regionaler – Ebene läuft der Konkurrenzkampf vorwiegend zwischen einer großen Rechts- und einer großen Linkspartei ab. Ein Wandel wird dadurch abgeblockt, dass diese Parteien sehr stark zentralisiert sind und ihre Leitung die Wahlkandidaten ohne Beitrag der gewöhnlichen Parteimitglieder oder der Wähler auszusuchen vermag.

Und in Portugal zeichne sich die Wählerschaft vor allem durch Passivität aus, schreibt Barber, genährt durch die Unfähigkeit der Parteien, das politische Verhalten der Bevölkerung zu gestalten. Es sei demnach ein „ernüchternder Gedanke“, dass die Kinder einer demokratischen Gesellschaft, selbst in einer Wirtschaftskrise, seltener zur Wahlurne gingen als ihre Eltern, die Autoritarismus am eigenen Leib erfuhren.

Aus Frankreich

Chaos in Sarkozys Partei

Le Figaro, die große konservative französische Tageszeitung, nennt es einen „Live-Selbstmord“: Seit dem 18. November zerreißt sich die Partei UMP (Union pour un mouvement populaire) in aller Offenheit. An diesem Tag sollten die Parteianhänger einen neuen Vorsitzenden der Partei des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy wählen. Das Ergebnis war sehr knapp, die beiden Kandidaten streiten um den Wahlsieg und beschuldigen sich gegenseitig des Wahlbetrugs.

Der bisherige Generalsekretär Jean-François Copé wurde von zwei internen Kommissionen als Wahlsieger bezeichnet. François Fillon, ehemaliger Premier unter Sarkozy, bestreitet dieses Ergebnis und gründete nun in der Nationalversammlung eine abtrünnige Fraktion. Der ehemalige Premierminister Alain Juppé und Sarkozy selbst wurden zu Hilfe gerufen, doch keinem von beiden gelang es, die Situation zu entschärfen. Fillon geht nun vor Gericht und die Sache liegt demnach in den Händen der Justiz.

„Diese exemplarische Geschichte muss man mit dem verbinden, das überall zum Vorschein tritt: ,postdemokratische‘ Regimes, in denen die Wahl nur noch ein Vorwand ist und sich das Wesentliche der Macht anderswo abspielt“, meint dazu der Journalist Philippe Thureau-Dangin in Le Monde:

Der britische Politologe Colin Crouch analysierte dieses Phänomen Anfang der 2000er Jahre und erklärte, warum die privaten Interessen und die Macht der Finanz- und Medienlobbys nach und nach der Demokratie jeden Sinn und jede Substanz entziehen, und das sogar in Europa (Kanzlerin Angela Merkel wurde selbst von Philosoph Jürgen Habermas als Postdemokratin bezeichnet). [...] In dieser postdemokratischen Welt fällt es den Politikern schwer, die Gewaltenteilung zu beachten. [...] Schluss also mit Staatsstreichen, nun hat das Zeitalter der permanenten Gewaltstreiche begonnen.

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