Budapest, 15. März 2011. Gedenken an die Ungarische Revolution von 1848.

Viktor Orbán: groß, größer, Ungarn

Am 15. März gedachten die Ungarn der Revolution von 1848. Doch in diesem Jahr verschwand das Bild des historischen Freiheitskämpfers Kossuth hinter dem amtierenden Regierungschef Viktor Orbán.

Veröffentlicht am 1 April 2011 um 15:06
Andrej Bán / Týžděň  | Budapest, 15. März 2011. Gedenken an die Ungarische Revolution von 1848.

Mit einem Glas Champagner in der einen und einem Pass der ungarischen Republik in der anderen Hand erhielten rund zwanzig Csángós [Angehörige der ungarische Minderheit in Rumänien] die doppelte Staatsbürgerschaft. Sie trugen ihre Trachten und den meisten standen die Tränen in den Augen.

Nicht erstaunlich. Diese Menschen kommen zurück aus den Tiefen der Vergangenheit. Und das nicht nur wegen der rund Tausend Kilometer, die ihre Region an der moldawisch-rumänischen Grenze, wo sie seit mehr als Tausend Jahren leben, von der Heimat trennt.

Das Orbán-Gesetzist sehr großzügig. Es beinhaltet eine Klausel, die es in Ausnahmefällen ermöglicht, seine ungarische Herkunft noch aus der Zeit vor 1918 geltend zu machen. Die Csángós profitieren von dieser Ausnahmeregelung: Es reicht, dass sie per Geburtsurkunde ihre Abstammung allein über den Namen ihrer Eltern oder Großeltern nachweisen.

„Brüssel macht uns keine Vorschriften“

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Budapest zeigt sich sehr offen für seine entfernten Verwandten. Drei Tage vor den Csángós, waren die kroatischen Ungarn aus Mohács an der Reihe, einen Tag davor die Ungarn der Vojvodina und in den Städten Subotica, Koloszvár oder Csíkszered jene Siebenbürgens. Alle schworen ihrer neuen Heimat treu zu dienen und sie zu verteidigen.

Noch bevor die ersten Csángós ihren Eid leisteten, sprach Regierungschef Viktor Orbán vom Portal des Nationalmuseums zu einer Menschenmenge von mehr als zwanzigtausend Personen: „An diesem Ort selbst haben wir Ungarn geschworen, dass wir nie wieder Sklaven sein wollen.“

Jeder Anwesende wusste um die Bedeutung dieser am 163. Jahrestag des Aufstandes gegen die Vorherrschaft der Habsburger gesprochenen Worte: Am 15. März 1848 zwangen die Revolutionäre dem kaiserlichen Gouverneur 12 Zugeständnisse ab, darunter unter anderem die Pressefreiheit und die Abschaffung der Zensur.

Ein Ungar verteidigt den anderen

„Der Eid vom 15. März verpflichtet uns. Er bedeutet, dass ein Ungar den anderen Ungarn verteidigt, und dass wir gemeinsam Ungarn verteidigen.“ Orbán wusste haargenau, wie er die Symbolik der Märzrevolution für sich nutzen konnte: „Getreu unserem Eid haben wir es nicht geduldet, dass uns 1848 aus Wien diktiert wurde. Wir haben es auch 1956 und 1990 nicht geduldet, dass uns aus Moskau diktiert wurde. Jetzt lassen wir es nicht zu, dass uns aus Brüssel irgendjemand etwas vorschreibt.“

Neuer Name, neue Verfassung

Am Vortag der feierlichen Rede Orbáns hat die Regierungskoalition im Parlament einen ersten Entwurf für eine neue Verfassungsreform, bereits „Oster-Verfassung“ getauft, vorgelegt. Sie soll allem Anschein nach die Renaissance der ungarischen Nation symbolisieren.

Die Republik Ungarn soll fortan nur noch kurz „Ungarn“ heißen. Viktor Orbáns Partei Fidesz gibt trotz der Bestürzung der Opposition [die jede Mitarbeit am Entwurf aufgekündigt hat] vor, dass die Verfassung nicht nur von der Politik, sondern von der gesamten Nation mitgeschrieben werde. Vor ein paar Wochen bekamen alle ungarischen Haushalte einen Fragebogen mit zwölf Fragen (Beispiel: Soll eine lebenslange Haftstrafe ganz abgesessen werden?)

Rund 800.000 Menschen hätten bereits geantwortet. Ihre Antworten sollen in Rekordzeit ausgewertet werden, denn die neue Verfassung soll schon Mitte April vom Parlament verabschiedet werden. Und sie soll, natürlich, am Ostermontag feierlich von Staatspräsident Pál Schmitt unterzeichnet werden.

Ungarns Nachbarn besorgt

Dies alles könnten nur innere Angelegenheiten sein, doch geht das „Ungarn, dessen Ideal der ungarischen Nation sich für alle Ungarn im Ausland verantwortlich fühlt“ weit über die Landesgrenzen hinaus. Und die Nachbarländer sind ganz und gar nicht begeistert, dass sich Ungarn um seine im Ausland lebenden ethnischen Ungarn sorgt.

Die neue Verfassung soll für die gesamte ungarische Nation gelten. Folglich werden alle frisch eingebürgerten Ausländer das Stimmrecht erhalten. Schenkt man manchen Medien Glauben, scheiden sich bei dieser Frage innerhalb der Fidesz die Geister.

Der Verfassungsentwurf belebt zudem die veraltete Terminologie des kaiserlichen Ungarns. So soll der Oberste Gerichtshof in Zukunft wieder den Namen „Curie“ tragen. National, christlich, imperial und revolutionär: So gibt sich die neue Oster-Verfassung des Viktor Orbán. (j-s)

Aus Sicht Bratislavas

Budapests aufdringlicher Wink mit dem Zaunpfahl

Der ungarische Ministerpräsident hat zum ersten Mal eingestanden, dass er im Ausland lebenden ethnischen Ungarn das Stimmrecht zusprechen will, notiertHospodarske noviny. Es sei der „natürlichste Weg“, um die Ungarn aller Länder zusammenzuführen, erklärte Viktor Orbán Ende März. Für Béla Bugár, Chef der Partei der ungarischen Minderheit in der Slowakei, stellt der Vorschlag eine Möglichkeit dar, „die in der Slowakei lebende Minderheit in die politische Debatte Ungarns mit einzubinden.“ Bis jetzt hat es seine Partei aber nicht geschafft, den Gesetzestext zu ändern, der jedem, der die ungarische Staatsbürgerschaft annimmt automatisch die slowakische abspricht. Die ethnischen Spannungen zwischen Budapest und Bratislava haben dem Botschafter Ungarns in der Slowakei bereits den Posten gekostet. SME berichtet, der Diplomat habe erklärt, „das Slowakische Volk sei nichts anderes als eine Gruppe aus seit Jahrzehnten assimilierten Ungarn.“ „Worte, die im Grunde das aussprechen, was, wenn nicht alle Regierungsmitglieder, dann doch zumindest die meisten Mitglieder der Fidesz-Partei denken“, notiert SME.

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