Vladimir Kazanevsky voxeurop

Orbán verschärft den Ton gegenüber Dissident*innen

Wie erkennt man, ob ein populistisches Regime an Popularität verliert? In Ungarn zwingt der Aufstieg der Oppositionsbewegung von Péter Magyar die Fidesz-Regierung, den Druck auf Dissident*innen und Minderheiten zu verstärken.

Veröffentlicht am 3 Juni 2025

Im März 2025 war der beliebteste ungarische Politiker zum ersten Mal seit 15 Jahren nicht Premierminister Viktor Orbán, sondern sein unerbittlicher Gegner Péter Magyar, der erst letztes Jahr bekannt wurde. Das geht aus einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Median hervor, das für das Medienunternehmen HVG recherchiert.

Laut einer weiteren Umfrage, die vom Republikon-Institut im April 2025 durchgeführt wurde, würden 32 % der Ungarn und Ungarinnen für Magyars Partei Tisza stimmen, was einem Plus von 3 % gegenüber März entspricht. Im gleichen Zeitraum gewann die Regierungspartei Fidesz-KDNP 1 % hinzu und liegt nun bei 28 %. Die Tisza-Partei hat seit ihrer Gründung im Frühjahr 2024 kontinuierlich an Popularität gewonnen. In den letzten Wochen hat sie einen besonderen Schub bekommen, offenbar dank unentschlossener Wähler*innen und in geringerem Maße auch dank ehemaliger Anhänger*innen der Satire-Partei Two-Tailed Dog Party.

Bettwanzen erfordern Frühjahrsputz

Es überrascht nicht, dass diese Entwicklung die gut geölte Propagandamaschine der Fidesz-Partei in eine Krise gestürzt hat. In seiner Rede zum ungarischen Unabhängigkeitstag am 15. März kündigte Ministerpräsident Orbán an, einen „Frühjahrsputz“ zum Kampf gegen „Bettwanzen” zu veranstalten. Damit bezeichnete er „Politiker*innen, Richter*innen, Zivilist*innen, Journalist*innen, NGOs und bezahlte politische Aktivist*innen.”


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Zudem gab es einen neuen Versuch, unabhängige Medien zu diskreditieren, indem sie als von „ausländischen Agenten” oder „vom Dollar finanziert” bezeichnet wurden. Zu den Betroffenen gehören auch Medien, die durch EU-Subventionen finanziert werden. In einem offensichtlich politisch motivierten Papier verwies das Amt für den Schutz der Souveränität auf zahlreiche „Berichte” über ausländische Einmischung in die ungarische Innenpolitik. Die Argumentation lautet, dass die Biden-Regierung, die US-Agentur für internationale Hilfe (USAID), die Open Society Foundations und andere internationale Geldgeber, die unabhängige Medien unterstützen, ein großes Netzwerk bilden, dessen Ziel ist, Ungarns Unabhängigkeit zu untergraben.

Zahlreiche unabhängige Medien in Ungarn, darunter Telex.hu, HVG/EUrologus, 444.hu, Magyar Narancs, Direkt36 und Átlátszó, stehen im Fokus, weil sie Zuschüsse von der USAID, ausländischen Botschaften oder der Europäischen Kommission angenommen haben. In ihrer Rede ging die Fidesz-Regierung sogar so weit, ungarischen Journalist*innen mit doppelter Staatsbürgerschaft zu drohen, ihnen die Einreise nach Ungarn zu verweigern.

Mitte Mai 2025 wurde ein Gesetzentwurf angekündigt, der die „Transparenz des öffentlichen Lebens” betrifft und verheerende Folgen für die Rechtsstaatlichkeit, die Freiheit und die Demokratie in Ungarn haben könnte. Sollte das Gesetz verabschiedet werden, darf das Amt für den Schutz der Souveränität in Zukunft Organisationen, die ausländische Finanzmittel erhalten, auf eine schwarze Liste setzen. Der Umfang des Gesetzentwurfs lässt vermuten, dass auch EU-Subventionen ausgesetzt werden könnten, wenn sie als „Bedrohung” für die nationale Souveränität angesehen werden.

Trotz dieser Welle von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen seitens der ungarischen Regierung wurde die Republikon-Umfrage in den letzten Monaten durch mehrere andere bestätigt. Die Tisza-Partei von Péter Magyar liegt im Vorfeld der Wahlen an der Spitze.

MEPs als Propagandamittel

Als Reaktion darauf versuchen die Regierung und die Fidesz, den Schaden zu begrenzen. Ihre populistischen Methoden haben sich dabei nicht wesentlich geändert. Dazu gehören die Stigmatisierung von LGBTQ-Personen, die Herabwürdigung unabhängiger Medien und die Androhung von Sanktionen, die Verschärfung der ohnehin schon strengen Drogengesetze, die Änderung der Wahlvorschriften – und die Diskussion neuer Gesetze, die gegen Péter Magyar und seine Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament eingesetzt werden könnten.

In Brüssel sind die neun Abgeordneten der Tisza-Fraktion (Mitglied der konservativen Europäischen Volkspartei) seit ihrer Wahl im vergangenen Jahr sehr präsent. Wie zu erwarten war, nutzt die Orbán-Regierung dies, um die ungarischen EU-Politiker*innen zum Punchingball zu machen. So wie sie es auch mit europäischen Institutionen tut.

Tisza trotzt dem Sturm der Kollár-Affäre

Inmitten dieses feindseligen Umfelds erklärte die Tisza-Abgeordnete Kinga Kollár Mitte April in einem Fernsehinterview, ihre Partei sei froh, dass die EU die Zahlungen aus dem Haushalt an Ungarn aufgrund des ungelösten Streits über Rechtsstaatlichkeit und Korruption ausgesetzt habe.

In einem Interview mit ATV relativierte Kollárs Chef Peter Magyar ihre Worte allerdings: „Die Europaabgeordneten von Tisza haben nie über die ungarischen Finanzmittel abgestimmt, da die Entscheidung, die Zahlungen auszusetzen, vor drei Jahren getroffen wurde, als die Partei noch gar nicht existierte. Der Hauptgrund dafür war die Korruption der Familie Orbán in industriellem Ausmaß.”

Tisza macht jedoch kein Geheimnis aus ihrer Absicht, 2026 endlich die seit langem blockierten EU-Gelder freizugeben. Derzeit hat die EU-Kommission die Zahlungen fast vollständig eingefroren, da Budapest nicht bereit ist, zahlreiche langjährige Streitigkeiten über Rechtsstaatlichkeit und Korruption beizulegen.

Laut einer Umfrage des Republikon-Instituts erwies sich der „Kollár-Vorfall” aber nicht als Erfolg für Fidesz. Und das, obwohl die Propagandamaschinerie der Regierung laut der Factcheck-Website Lakmusz etwa 90.000 Euro ausgegeben hatte, um daraus Kapital zu schlagen.

Tisza scheint im Kampf gegen die Fidezs-Partei eine Kommunikationsstrategie gewählt zu haben, die sich von anderen Oppositionsparteien unterscheidet. So zeigt Tisza wenig Interesse an wertebasierten Botschaften, wenn es um soziale Themen, Minderheiten und andere sensible Fragen geht. Trotz regelmäßiger Versuche seitens der Fidesz-Regierung, sie mit diesem Thema in Verbindung zu bringen, hat Tisza es vermieden, sich zu Minderheitenrechten zu äußern - ein Thema, das in der ungarischen Politik seit langem für Kontroversen sorgt.


Trotz regelmäßiger Versuche seitens der Fidesz-Regierung, sie mit diesem Thema in Verbindung zu bringen, hat Tisza es vermieden, sich zu Minderheitenrechten zu äußern – ein Thema, das in der ungarischen Politik seit langem für Kontroversen sorgt


Tisza ist auch viel weniger bereit als ihre Vorgänger, eine pro-demokratische Haltung einzunehmen oder sich mit Fragen von Freiheit und Recht zu befassen. Die Partei behauptet, eine Mitte-Rechts-Partei zu sein, die die EU unterstützt, hat bisher aber wenig unternommen, um den neuen Unterdrückungsmaßnahmen der Fidesz-Regierung entgegenzuwirken.

Auch haben sich die Tisza-Abgeordneten nicht energisch gegen den jüngsten Vorstoß der Regierung ausgesprochen, ein Verbot von LGBT+-Pride-Veranstaltungen gesetzlich zu verankern, das mit hohen Geldstrafen für Verstöße verbunden ist. (Diese Initiative verstößt eindeutig gegen das EU-Recht zur Vereinigungsfreiheit.)

Das Gleiche gilt für die jüngste Verschärfung der ungarischen Drogengesetze, die laut Drugreporter.net ohnehin schon zu den strengsten in Europa gehören. Bisher konnten Drogenkonsument*innen einer Strafverfolgung entgehen, indem sie an einem sechsmonatigen ambulanten Entziehungsprogramm teilnahmen. Von nun an werden Betroffene nur dann von einer Haftstrafe ausgenommen, wenn sie die Identität der Dealer*innen preisgeben. Bei Rückfällen verlieren sie ihren Anspruch auf Behandlung und werden strafrechtlich verfolgt. Die Tisza-Abgeordneten haben sich entschieden, Themen wie dieses zu meiden und damit der Propaganda-Falle von Fidesz zu entgehen, die ihre Argumente gegen sie verwenden würde.

Aus menschenrechtlicher Sicht ist leider dasselbe mit der Debatte über die EU-Mitgliedschaft der Ukraine geschehen. Fidesz hat angekündigt, ein Referendum darüber abzuhalten, ob die Ukraine der Europäischen Union beitreten darf - natürlich mit der Absicht, auch dieses Thema im Vorfeld der Wahlen im April 2026 als Waffe einzusetzen. Eine von Tisza im Rahmen der Initiative „Nations Voice” in Auftrag gegebene Umfrage ergab jedoch, dass 58 % der Befragten den EU-Beitritt der Ukraine unterstützen – ein weiterer Schlag für Fidesz?

Wie Márton Gergely, Chefredakteur von HVG, in einem kürzlich erschienenen Meinungsartikel feststellt, besteht die Tisza-Strategie darin, sich von den Lieblingsthemen der Regierung fernzuhalten. Auf diese Weise will sie sich so weit wie möglich von den anderen Oppositionsparteien Ungarns abgrenzen, die in der Vergangenheit immer wieder daran gescheitert sind, eine erfolgreiche Koalition zu bilden.

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