Wahrheit tut weh, liebe Europäer

Wenn Großbritannien nach dem umstrittenen Europäischen Rat von letzter Woche isoliert ist, dann nur weil der Kontinent sauer darüber ist, dass sich die Briten nie dem unruhigen Europrojekt angeschlossen haben, meint der Londoner Bürgermeister Boris Johnson.

Veröffentlicht am 12 Dezember 2011 um 14:56

Ich weiß, manche Leute sind verunsichert, weil alle diese mächtigen Europäer so überaus verärgert sind. Angela Merkel hat gesagt, wir würden noch nicht einmal richtig verhandeln. Nicolas Sarkozy kann sich kaum dazu überwinden, Großbritannien zu erwähnen, und wurde dabei gefilmt, wie er David Cameron anscheinend nicht die Hand schütteln wollte.

Quer durch den Kontinent sind die Zeitungen voll von wutentbrannten Schlagzeilen über die allgemeine Arroganz und Dummheit der Engländer, der Anglais, der Inglesi. Ich habe so einen armen liberaldemokratischen EU-Abgeordneten gesehen, der an seiner Empörung über das Verhalten der Briten beim letzten Gipfel fast explodierte.

Und es muss viele Leute in diesem Land geben, denen angesichts der hasserfüllten Kritik ein bisschen Angst wird. Seit ein paar Tagen erklärt uns die BBC mit Grabesstimme, wir seien “isoliert” und “marginalisiert” – als ob die Entscheidung getroffen worden wäre, uns auf unserer nebligen Insel wie einen Haufen blaubemalte Wilde sitzenzulassen.

Veto ist kein Excalibur

Ich hoffe also, dass sich alle beruhigen werden, wenn ich darauf hinweise, dass unsere europäischen Freunde und Partner nicht wirklich über den Gipfel verärgert sind. Jeder benimmt sich, als wäre an David Camerons Veto etwas Epochemachendes – als ob endlich irgendein nationales Excalibur aus einem Felsen gezogen oder der Trident aus seinem Keller unter dem Meer abgeschossen worden wäre.

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In Wirklichkeit haben viele Premierminister Dinge blockiert, die nicht im Interesse dieses Landes lagen – von Margaret Thatcher beim EU-Haushalt bis zu Tony Blair bei der Quellensteuer. Und viele andere Premierminister waren noch viel aufmüpfiger als die Briten – man denke da nur an den Spanier Felipe González, der die EU-Gipfel so lange aufhielt, bis er seiner Meinung nach genug irischen Kabeljau und Schellfisch in die Finger bekommen hatte.

Nein, sie sind nicht wirklich wütend auf uns, weil wir gegen den neuen Vertrag über die Fiskalunion sind. Unsere europäischen Brüder und Schwestern sind deshalb so chronisch aufgebracht gegen die Briten, weil sich erwiesen hat, dass wir bezüglich des Euro völlig Recht hatten. Seit über 20 Jahren fahren britische Minister nach Brüssel und sagen dort, dass sie die Sache mit dem Binnenmarkt ja ganz toll finden, aber dass es vielleicht nicht so schlau ist, eine Währungsunion bilden zu wollen. Und seit über 20 Jahren sagen manche von uns, eine Währungsunion könne deshalb nicht funktionieren, weil sie ohne eine politische Union gar nicht machbar ist – und eine politische Union demokratisch nicht möglich ist.

Die Briten sagen seit 20 Jahren dasselbe

Wir haben darauf hingewiesen, dass man zur Kontrolle der nationalen Haushalte und Steuern eine Art zentrale Euroregierung brauchen und die europäische Bevölkerung dabei nicht mitziehen würde. Man braucht sich ja jetzt nur umzusehen. Nicht etwa die angelsächsischen Banker haben den Schlamassel in der Eurozone verursacht, Sarkozy mon ami. Es war das komplette Versagen der Länder der Eurozone, die Maastricht-Regeln zu befolgen – allen voran übrigens Frankreich.

Es war die Weigerung der Griechen, ihre Ausgaben zu kontrollieren oder ihre Sozialversicherungssysteme zu reformieren. In Griechenland und Italien wurden die demokratisch gewählten Regierungschefs effektiv abgesetzt, in der Hoffnung die Märkte zu beruhigen und den Euro zu retten. Und was die Spitzenpolitiker der Euroländer noch wütender macht, ist, dass es nicht zu funktionieren scheint.

Sie werfen David Cameron vor, gegen einen neuen EU-Vertrag sein Veto eingelegt zu haben, wenn er doch in Wirklichkeit nichts dergleichen getan hat. Es steht den anderen EU-Staaten völlig offen, jetzt voranzuschreiten und ihre eigenen neuen Fiskalregelungen zu treffen. Wenn sie wollen, können sie beschließen, eine Wirtschaftsregierung für Europa zu bilden. Sie können entscheiden, jetzt sei die richtige Zeit – obwohl die Wähler sich vom politischen Prozess bereits entfremdet fühlen –, heikle Entscheidungen über Steuern und Ausgaben an nicht gewählte Bürokraten abzugeben.

Ein intellektuell, moralisch und demokratisch bankrottes Projekt

Ich finde ja, es wäre ausgesprochen gefährlich, so etwas zu tun, da die Völker dieser SupraNAtionalen FiskalUnion (Snafu) schnell merken würden, dass sie ihre Regierung nicht mehr aus dem Amt nehmen können. Ich bezweifle sehr, dass es funktionieren würde, denn es scheint keinen besonderen Grund zu geben, warum die Regierungen eine Reihe neuer “bindender” Regeln heute besser befolgen sollten als die “bindenden” Regeln von Maastricht – nicht ohne einen geheimen Antrag, sie mit Gewalt und einer Euroarmee durchzusetzen.

Doch selbst wenn die “Snafu” ein wenig Aussicht auf Erfolg hat, gibt es keinen Grund für David Cameron, sein Land an ein Projekt zu kuppeln, das in intellektueller, moralischer und demokratischer Hinsicht bankrott ist. Er hatte durchaus Recht, zu sagen, Großbritannien werde nicht daran teilnehmen. Und der Grund, dass die anderen wütend auf Großbritannien sind, liegt darin, dass der Streit den echten Fehlschlag des Gipfels verschleiert: Es wurde wieder keine Lösung für die Probleme des Euro gefunden.

Die beste Hoffnung ist nun für alle, sich zu beruhigen und zu sehen, was die Bürger Europas wirklich von ihren Institutionen erwarten. Der Euro mag gerettet werden oder nicht – doch es scheint unwahrscheinlich, dass es ihn in seiner aktuellen Form in einem Jahr noch gibt. Das beste wäre, man würde den Griechen (und vielleicht anderen) erlauben, schmerzlindernd und friedlich auszusteigen.

Fangt bei der Steckdose an!

Doch es gibt immer noch eine ganze Menge Dinge, die die EU für ihre sich abmühenden Völker tun könnte. Im Januar ist es 20 Jahre her, dass der europäische Binnenmarkt anbrach, und es gibt immer noch alle möglichen nichttarifären Handelshemmnisse. Da versuchen wir, eine Wirtschaftsregierung für Europa zu bilden, und haben noch nicht einmal die Dienstleistungsrichtlinie umgesetzt, mit der jeder, vom Optiker über den Immobilienhändler bis zum Versicherungsmakler, sich freier in anderen europäischen Zuständigkeitsbereichen niederlassen kann. Wir sagen den Griechen, dass Brüssel ihre Wirtschaft effektiv verwalten soll – und können uns nicht einmal auf einen europäischen Standard für Steckdosen einigen.

Jeder macht sich nun Sorgen, dass die anderen europäischen Länder Großbritannien “bestrafen” werden, vielleicht mit neuen Richtlinien über Finanzdienste, die der Londoner City schaden sollen. Nun, insofern das überhaupt ein Problem ist, wurde es jedenfalls durch diesen Gipfel nicht irgendwie verschlimmert.

Und insofern wir unsere europäischen Legitimationen behaupten müssen, ist jetzt die Zeit gekommen, mit positivem Ausblick ein Europa anzugehen, das Individuen und Unternehmen tatsächlich hilft. Wenn diese führenden Politiker ihr nächstes Gipfeltreffen haben, dann sperren wir sie doch einfach ein, bis sie die Dienstleistungsrichtlinie angenommen und sich auf eine europäische Steckdose geeinigt haben.

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