Warum Joseph Stiglitz falsch liegt

In seinem jüngsten Buch, das Ende September 2016 in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde, spricht sich der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz für einen „sanften Ausstieg“ aus dem Euro aus. Diese Einstellung zeigt, wie wenig er die Realitäten des alten Kontinents verstanden hat.

Veröffentlicht am 18 Oktober 2016 um 19:48

Joseph Stiglitz, amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und „Nobelpreisträger" bringt ein neues Buch heraus: Europa spart sich kaputt: Warum die Krisenpolitik gescheitert ist und der Euro einen Neustart braucht im Verlag Random House. Aus diesem Anlass veröffentlichte er in den letzten Wochen mehrere Presseartikel (z. B. in der Financial Times oder im Guardian). Dort plädiert er für einen „sanften Ausstieg" aus dem Euro und ist der Meinung, dass „das Ende der gemeinsamen Währung nicht das Ende des Projekts Europa" sei. Diese Einstellung zeigt, wie wenig er verstanden hat, worum es auf dem alten Kontinent tatsächlich geht.

Wie die meisten amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler stand Joseph Stiglitz von Anfang an, schon in den 1990er Jahren, dem Projekt einer gemeinsamen Währung sehr kritisch gegenüber – insbesondere im Sinne der Theorie der „optimalen Währungsräume“. Das Thema wurde Anfang der 1960er Jahre vom kanadischen Wissenschaftler Robert Mundell erforscht und brachte diesem 1999 den Preis der Bank von Schweden zu Ehren von Alfred Nobel ein.

Laut Mundell muss ein Währungsraum gewisse Voraussetzungen erfüllen, um eine gemeinsame Währung zu schaffen: hohe Mobilität der Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital), Vorherrschaft symmetrischer Schocks (Konkordanz der Konjunkturzyklen in den Ländern), Finanzmarktintegration, ähnliche Vorlieben der Bürger (Solidarität) ...

In vielerlei Hinsicht erfüllte die künftige Eurozone diese Voraussetzungen nicht. Aber wie so oft bei theoretischen Ansätzen entspräche wahrscheinlich kein Wirtschaftsraum der Welt jemals diesen Kriterien: ein „optimaler Währungsraum“ kann in der Praxis nur ein Wirtschaftsraum sein, der bereits seit mehreren Jahrzehnten eine gemeinsame Währung hat ...

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Robert Mundell übrigens ging selbst nie davon aus, dass seine Theorien wirklich darauf hindeuteten, die europäische Gemeinschaftswährung sei unmöglich oder nicht wünschenswert: im Gegenteil – er unterstützte dieses Projekt aktiv und wurde seit den 1970er Jahren regelmäßig damit in Verbindung gebracht, obwohl er die von deutschen Politikern in diesem Prozess vertretenen Positionen auch oft kritisiert hat.

Was in diesem Zusammenhang von einem fortschrittlichen Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz irritiert – und er ist bei weitem nicht der einzige – ist sein offenkundiges Unverständnis der politischen Bedeutung des Themas: der Euro ist in erster Linie ein Mittel, um einen Bruch mit dem marktliberalen Ansatz in Europa zu kennzeichnen. Wesentliche Merkmale des EU-Binnenmarkts waren bis jetzt nicht nur Steuer- und Sozialdumping, die aktuell noch immer sehr problematisch sind, sondern auch Währungsdumping.

Das System fester und anpassungsfähiger Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen war zwar ein Versuch, dies zu begrenzen, aber es hat nie zuverlässig funktioniert. Der Euro setzte dem ein Ende, in dem er ein grundlegendes Element der Souveränität an die Union übertrug. Er ermöglicht statt der sakrosankten Wettbewerbspolitik endlich eine gemeinsame Geld- und Währungspolitik.

Joseph Stiglitz hat allerdings guten Grund zu betonen, dass die Bedingungen für die Konstruktion des Euro im Vertrag von Maastricht 1992 und auch die bei der tatsächlichen Einführung 1999 festgelegten Regeln bei weitem nicht ausreichten und die Krise 2010 verstärkten. Auch wir erwähnen dies seit 25 Jahren ständig in unseren Alternatives Économiques.

Aber die US-Ökonomen von heute, die einen Großteil ihrer weltweiten Autorität aus dem dominanten Status des Dollars ableiten, vergessen ärgerlicherweise ständig, dass die Geschichte der US-Währungsunion auch ein sehr komplizierter Prozess war: nach der amerikanischen Unabhängigkeit brauchte es ganze 137 Jahre (und einen blutigen Bürgerkrieg), bevor die Vereinigten Staaten von Amerika 1913 eine echte Zentralbank etablierten. Es war eine bewegte Geschichte, an die praktischerweise eine vor kurzem erschienene Publikation des Think Tank Bruegel erinnert, die die Entwicklung der amerikanischen Währung mit der sehr viel kürzeren des Euro vergleicht.

Darüber hinaus unterschätzt Joseph Stiglitz offensichtlich die Bedeutung der Änderungen an der Architektur der Eurozone, die seit der Krise bereits vorgenommen wurden. Vor allem erklärt er, dass die Union eine „gemeinsame Bankenunion“ benötige. Ja, selbstverständlich: das war eines der wesentlichen Elemente, die von Anfang an fehlten, und dieser Umstand richtete großen Schaden an, weil er einen Teufelskreis zwischen den Schwierigkeiten der Banken und denen der Staaten beförderte. Aber diese Bankenunion wird bereits seit November 2014 eingeführt, auch wenn sie die Feuerprobe noch nicht bestanden hat und alles andere als vollkommen ist. Insbesondere fehlt eine gemeinsame Einlagensicherung, wie unser Nobelpreisträger zu Recht betont.

Man bräuchte ebenfalls, rät uns Stiglitz, „Regeln zur Begrenzung der Handelsbilanzüberschüsse“. Auch hier hat er recht: die exzessiven Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands sind ein Hauptgrund für die Dysfunktionalität der Eurozone. Aber solche Regeln wurden bereits 2011 im so genannten Sixpack verabschiedet, einem wesentlichen Fortschritt für die Eurozone. Was jedoch aktuell am meisten fehlt, ist ausreichend politischer Mut in der Europäischen Kommission, die diese Regeln anwenden und die deutschen Überschüsse öffentlich anprangern sollte.

Ferner wären laut Joseph Stiglitz „Eurobonds oder andere Mechanismen zur Umlage der Schulden“ vonnöten. Natürlich. Aber selbst wenn sie anders heißen, weil die Bezeichnung „Eurobonds“ aus politischen Gründen tabu ist, sind der europäische Stabilitätsmechanismus, der 700 Milliarden Euro mobilisieren kann, und die 300 Milliarden als „Juncker-Bonds“ bezeichneten EU-Anleihen doch Keimzellen dafür. Vor allem ist die Politik der massiven Käufe von Staatsanleihen durch die EZB im Begriff, de facto eine sehr schnelle Vergemeinschaftung der europäischen Schulden in ihrer Bilanz zu schaffen. Langfristig wirft dies schwierige Fragen auf.

Man bräuchte, sagt Stiglitz uns weiter, „eine Geldpolitik, die sich mehr um Arbeitsplätze, Wachstum und Stabilität, nicht nur um die Inflation kümmert“. Die französischen Politiker von rechts und links befürworteten seit den 1970er Jahren konstant den Euro, um einen Teil der verlorenen Währungshoheit wiederzuerlangen, der tatsächlich durch die Schwächung des Franc verloren gegangen war. Außerdem wollten sie so verhindern, dass die europäische Geldpolitik weiterhin einzig durch die Deutsche Bundesbank bestimmt würde, die sich in der Tat nur um die Inflation kümmerte, und nicht um Wachstum oder Arbeitslosigkeit. In dieser Hinsicht hat der Euro seine Ziele erreicht, ganz gleich was Joseph Stiglitz dazu sagt.

Die EZB verfolgt heute eine extrem expansive Geldpolitik: ihre Bilanzvolumen ist sogar größer als das der US-Notenbank. Vor allem die Vertreter der Bundesbank bei der EZB kritisieren dieses Vorgehen: 2011 traten sogar zwei von ihnen vom EZB-Vorstand zurück. Aber schon seit der Zeit vor der Krise ist der wesentliche Punkt, den man der EZB in Bezug auf den Zeitraum 1999-2008 vorwerfen kann, dass sie bereits damals eine zu expansive Geldpolitik verfolgte und so spekulative Blasen in ganz Südeuropa erzeugte.

Alle Änderungen wurden am Rande des Abgrunds nach dem Prinzip „zu wenig, zu spät“ betrieben und verlängerten die Krise in der Eurozone. Bei der Vorstellung, man hätte Anfang 2010 Angela Merkel und Wolfgang Schäuble mitgeteilt, dass in den darauffolgenden fünf Jahren ein Fonds mit 700 Milliarden Euro zur Unterstützung der Krisenländer aufgelegt würde, dass eine Bankenunion umgesetzt werde und dass die EZB beginnen würde, mit aller Macht Staats- und Unternehmensanleihen aufzukaufen, kann man nicht sicher sein, ob sie damals einen Lach- oder einen Wutanfall bekommen hätten. Mit Sicherheit waren sie aber zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, dass nichts von alledem jemals umgesetzt würde ... In der Praxis wurde die so genannte „no bail out“-Klausel, die ein Herzstück des Maastricht-Vertrags darstellt und jede Solidarität mit Staaten in einer Haushaltskrise verbietet, außer Kraft gesetzt.

Joseph Stiglitz betont im Gegenzug und völlig zu Recht das konstante Fehlen jeglicher Industriepolitik, ebenso die Orientierung der weiterhin strukturell restriktiven Haushaltspolitik. Dies stellt in der Tat den Kern der Probleme dar, die weiterhin eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft in der Eurozone verhindern. Dieser Knoten ist politisch noch immer sehr schwer zu durchschlagen. In Frankreich ist vor allem zu bedauern, dass die fünfjährige Amtszeit von François Hollande in diesen Fragen weitgehend nichts gebracht hat. Natürlich war bei weitem nicht sicher, dass diese Politik zum Erfolg führen würde, aber François Hollande versuchte nicht einmal, die politischen Linien zu verschieben.

Insbesondere bei den Schlussfolgerungen, die unser Nobelpreisträger aus diesen Unzulänglichkeiten und anhaltenden politischen Problemen zieht, produziert er de größten Irrtümer. Für ihn wäre es angesichts der Unfähigkeit der Europäer, ausreichend zügige Fortschritte in diesen Punkten zu erzielen, sinnvoller, „einen sanften Übergang zum Ausstieg aus dem Euro und zum potenziellen Einstieg in ein flexibles Euro-System“ anzustreben. Aus seiner Sicht „wäre ein Ende der gemeinsamen Währung nicht das Ende es Projekts Europa“. Eine äußerst riskante Wette.

Erstens sehen wir nicht, inwiefern ein Ausstieg aus dem Euro irgend einem Land der Eurozone helfen würde. Die Zinsen, zu denen dieses Land Fremdmittel aufnehmen könnte, würden sofort sprunghaft ansteigen. Unverzüglich käme die Frage auf, was mit den Verbindlichkeiten dieses Staats gegenüber dem Rest der Welt geschieht: bleiben sie trotz der Abwertung der neuen Landeswährung in Euro denominiert, wären sie sogar noch höher und belastender als vorher, beschließt das Land, diese Schulden einseitig zu kündigen, wäre es für eine lange Zeit von den internationalen Märkten ausgeschlossen. In jedem Fall würde dieser Staat mit Sicherheit für mehrere Jahre unter Sparmaßnahmen leiden, die mit den (dummen) von der Troika auferlegten nicht zu vergleichen wären.

Selbst Griechenland – das Land der Eurozone, das ohne Frage bei einem Austritt aus dem Euro am wenigsten zu verlieren hätte, hat es abgelehnt, den Versuch zu wagen. Dies war nicht nur einem Gewaltstreich seiner Eliten geschuldet, sondern geschah unter dem massiven Druck der öffentlichen Meinung: die Berater sind nicht diejenigen, die mit dem Geld bezahlen müssen, und die Bevölkerung auf den Straßen Athens zieht es vor, Euros statt Drachmen in der Tasche zu haben, ganz gleich, was Joseph Stiglitz davon hält, der sich mit seinen Dollars schließlich keine Sorgen zu machen braucht.

Das Argument des „sanften Ausstiegs aus dem Euro“, der das Projekt Europa angeblich nicht gefährdet, ist ganz besonders fantasievolle Science-Fiction. Wenn Staaten den Euro verließen, geschähe dies ganz sicher zunächst mit dem Ziel, die „Wettbewerbsfähigkeit“ gegenüber ihren Nachbarländern zurückzugewinnen. Das heißt: um ihnen den Schneid abzukaufen, indem man ihnen im Export Marktanteile abnimmt, durch die Abwertung der neuen Währung gegenüber dem Euro die Arbeitskosten senkt und so Unternehmen aus den anderen Ländern abzieht. All dies bei Verringerung des Konsums im Inland aufgrund des Kaufkraftverlusts der Bevölkerung durch eben diese Währungsabwertung.

Mit anderen Worten: ein solcher Prozess kann nur dazu führen, dass der Wirtschaftskrieg „jeder gegen jeden“ in der Europäischen Union noch verschärft wird. In Wirklichkeit gibt es keinen anderen möglichen Ausstieg aus dem Euro als den, den Marine Le Pen als Möglichkeit propagiert, die europäische Integration selbst in Frage zu stellen und den alten Kontinent wieder in die Wirren seiner Vergangenheit zu stürzen. Trotz aller großen Geister, die sie nach Art eines Joseph Stiglitz in diese Richtung drängen wollen, lassen sich die Völker Europas nicht täuschen: bei aller Unzufriedenheit, die sie berechtigterweise gegenüber dem Euro empfinden, sind sie nirgendwo bereit, ihn aufzugeben. Selbst Marine Le Pen musste in Sachen Euro-Ausstieg das Tempo reduzieren – so sehr beunruhigt diese Aussicht, völlig zu Recht, die französischen Wähler.

Die Aufgabe ist schwierig und es geht nur langsam voran, aber ist der Prozess einmal angestoßen, bleibt Europa nichts anderes übrig, als die Lücken und Mängel der Währungsunion nach und nach auszubessern. Der Rest ist nichts als Literatur, selbst wenn es wirtschaftstheoretische Literatur von hoher Qualität ist, wie die von Joseph Stiglitz. Seine Sorge um Europa ist rührend, aber die Art und Weise, wie er sich diesem Thema nähert, zeigt, von welch geringem Interesse diese zu stark rein wirtschaftstheoretischen Ansätze letztendlich sind, wenn es um Themen geht, bei denen der historische, soziale und politische Kontext eine entscheidende Rolle spielt. Man kann ihm das sicher nicht vorwerfen: ein Europäer, der ein Buch darüber schriebe, wie die Amerikaner die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten begrenzen und den tiefen Graben zwischen den Republikanern und den Demokraten, der schwarzen und der weißen Bevölkerung oder zwischen den Staaten des Bibelgürtels im Zentrum und denjenigen an der Küste überwinden sollen, läge vermutlich auch völlig daneben.

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