Demonstrationen gegen die Krise und die hohe Arbeitslosigkeit, Puerta del Sol, Madrid, 22. Mai.

Wie weit reicht die Wut der “Empörten”?

Am 22. Mai haben die Spanier die sozialistische Regierung bei den Regionalwahlen abgestraft. Im Ganzen Land dauern die Demonstrationen für mehr politische Demokratie an. Doch die Bewegung ist vielleicht nicht strukturiert genug, um überdauern zu können, meint Público.

Veröffentlicht am 23 Mai 2011 um 15:15
Demonstrationen gegen die Krise und die hohe Arbeitslosigkeit, Puerta del Sol, Madrid, 22. Mai.

Die Lunte, die von der Bewegung Democracia Real Ya (DRY) gezündet wurde, hat das Pulverfass in Brand gesetzt. Und heute riskiert niemand mehr, voraussagen zu wollen, wie weit diese Bewegung der demokratischen Erneuerung und die jungen Leuten, die seit einer Woche auf den spanischen Plätzen demonstrieren, wohl gehen können.

Die Ursachen: die Wirtschaftskrise, aber nicht nur das

„Eine meiner besten Schülerinnen von vor ein paar Jahren hat am 15. Mai an der Puerta del Sol demonstriert. Sie ist Praktikantin in einer Anwaltskanzlei und bekommt 300 Euro im Monat“, erzählt Irene Martin, Forscherin für Politikwissenschaft an der Autonomen Universität Madrid (UAM). Dieser Fall ist nichts außergewöhnliches, im Gegenteil, er ist typisch für die Probleme der jungen Spanier, die sich der Arbeitsplatzunsicherheit nur zu sehr bewusst sind – schließlich sind in Spanien 43 Prozent der jungen Leute arbeitslos.

„Ihre Situation ist die schlimmste in ganz Europa, schlimmer sogar noch als in Griechenland“, betont Irene Martin. Ihrer Meinung nach sind die jungen Leute das bemerkenswerteste Element der Bewegung vom 15. Mai, und zwar aus zwei Gründen: „Sie gehören zu Organisationen, die in den Medien wenig beachtet werden, und zu einer nicht wirklich politisierten Bevölkerungsgruppe.“ Sie teilen eine Realität, die „objektiv gesehen katastrophal [ist] und sich nicht verbessert“.

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Doch die wirtschaftlichen Bedingungen reichen nicht aus, um das Phänomen zu erklären. Für Ignacio Sánchez-Cuenca, Professor für Soziologie an der Complutense-Universität in Madrid, ist das Unbehagen offensichtlich: „Die Bedingungen waren seit Mai 2010 gegeben, als Zapatero den wirtschaftlichen Kurs gewechselt hat.“ Doch für ihn ist der Auslöser „dieses von vielen Menschen geteilte Gefühl, dass die Regierung der Krise gegenüber machtlos ist“. Die DRY-Bewegung beklagt, dass die Bürger „von Politikern und Bankern wie Handelswaren“ betrachtet werden. Sánchez-Cuenca ist der Meinung, den Spitzenpolitikern und Parteien seien Hände und Füße gebunden: „Die Regierungen haben keine Mittel zur Reaktion auf die Krise, die nicht von der EU oder von Deutschland vorgegeben wären“, erklärt er.

Das Ziel: mehr Demokratie

Die 15M-Bewegung ist dem aktuellen demokratischen System gegenüber sehr kritisch: „Sie vertreten uns nicht!“ wiederholen die Demonstranten. Fernando Vallespín, Professor für Politik und ehemaliger Vorsitzender des CIS, betont den symbolischen Charakter der Mobilisierung. Für ihn ist „das Auffallendste, dass sie aus dem Versagen der Demokratie entstanden ist, aus der mangelnden Beziehung der politischen Klasse zur Gesellschaft“. Diese Verschlechterung ist in den Umfragen sichtbar. Seit über einem Jahr werden Politiker und Parteien von den Bürgern als das drittgrößte Problem des Landes angesehen. Die 15-M ist der Ausdruck der Tatsache, dass „der Freibrief, den die Politiker vor vier Jahren nach den Wahlen bekommen haben, bald ausläuft“, erklärt der Politologe Juan Carlos Monedero. Die Politiker werden bald Rechenschaft ablegen müssen.

Das Beispiel: die Ansteckung des Südens

Der revolutionäre Wind, der durch die arabische Welt weht, ist bis nach Spanien gelangt. Natürlich im Verhältnis gesehen. „Die innovativsten Vorschläge kommen aus dem Süden“, erklärt Monedero. Für den Politologen der UAM, Ignacio Criado, haben die beiden Bewegungen nur eines gemeinsam, nämlich den Einsatz der sozialen Netzwerke. „Dadurch konnten sehr verschiedene Gruppen und Personen zusammengeschlossen werden“, meint er. Irene Martin, Expertin für die politische Kultur der Jugend, erinnert daran, dass die Ausgangssituation nicht dieselbe ist: „Hier leben wir in einer Demokratie, das ist dort nicht der Fall.“ Sie gibt jedoch zu, es sei „einfacher, sich in einer instabilen Welt aufzulehnen“.

Konsequenzen: Lektionen für die Politiker

Manche Spezialisten betonen die eventuellen Änderungen, die die traditionellen Parteien werden vornehmen müssen. Für Vallespín sind zwei Änderungen vorstellbar, die infolge der scheinbaren „demokratischen Abnutzung“ mittelfristig auftreten dürften. Zum einen „eine Reform des Wahlsystems“, mit der das Parlament auf die 400 von der Verfassung genehmigten Abgeordneten erweitert werden könnte [im Vergleich zu heute 350, um das Zweiparteiensystem zu schwächen und die Präsenz anderer, minderheitlicher Parteien zu verstärken], und zum anderen die „Listenöffnung“ der politischen Parteien. Seiner Meinung nach birgt die aktuelle Situation Risiken: „Sie kann in einen Linkspopulismus abgleiten“, betont er. Drei Faktoren dafür sind schon vorhanden: das Misstrauen gegenüber den Eliten, der Aufruf an die Bevölkerung und die Vereinfachung bzw. Verallgemeinerung der Probleme, des politischen Personals und der Parteien. Pablo Oñate, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Valencia, ist nicht überzeugt: „Es ist einfach, Leute zu mobilisieren, aber es ist viel schwieriger, diese Mobilisation aufrechtzuerhalten.“ Er hofft dennoch, dass sich die traditionellen politischen Fraktionen nicht taub stellen werden: „Sie täten gut daran, zu reagieren und sich den Bürgern zu öffnen“.

Die Zukunft: Wie können die Änderungen gelingen?

Angesichts der konfusen Vorschläge, die von den verschiedenen Gruppen der Bewegung vorgebracht werden, zweifeln die Spezialisten an ihrem Fortbestehen. „Ohne die Gründung einer neuen Partei wird es den traditionellen Parteien schwer fallen, die Dinge zu ändern“, meint Ismael Peña, Professor für Politikwissenschaft an der Offenen Universität Katalonien. Bis jetzt sind manche Sprecher der DRY vorsichtig geblieben und sagen, es sei noch zu früh, um sich zu äußern. Angesichts der Dynamik, die die Zeltlager und Sitzdemos tragen, ist Vallespín davon überzeugt, dass der Geist der Bewegung „bis zu den nächsten Parlamentswahlen lebendig bleiben wird“. Doch er zieht nicht in Betracht, dass sie zu einer „Dauereinrichtung“ wird, sondern erwartet eher punktuelle Veranstaltungen. (p-lm)

Wahlen

Schlappe für die Sozialisten

"Spanien fordert einen Wechsel", titelt die Tageszeitung El Mundo am Tag nach den Regional- und Kommunalwahlen. Die (oppositionelle, konservative) Volkspartei siegte überwältigend mit 37 Prozent der Stimmen, 2 Millionen mehr als die regierenden Sozialisten, die mit 27 Prozent der Stimmen ein "totales Debakel" erlebten. Die Volkspartei regiert nun in 36 Provinzhauptstädten und 12 Regionen. Die Sozialisten können sich nur in 12 Hauptstädten (sie verlieren 13) und in 3 Regionen (sie verlieren 3) an der Macht halten, stellt El Mundo fest. Die Zeitung weist auch auf "die Explosion der Bildu" hin, eine Parteienkoalition der baskischen Separatisten, die nun mit 25 Prozent der Stimmen zweitstärkste politische Kraft im Baskenland ist. In Spanien "hat eine neue politische Ära begonnen", schreibt die konservative Tageszeitung weiter und meint in kritischer Anspielung auf die "Bewegung 15. Mai", dass "die Stimmen dazu dienen, etwas in einer Demokratie zu verändern". Der Ministerpräsident José Luís Rodríguez Zapatero jedoch "hört die Rufe der Spanier nicht", fährt El Mundo fort: der Ministerpräsident hatte am 22. Mai verlauten lassen, dass er keine vorzeitigen Parlamentswahlen einberufen werde.

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