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„Wir haben es mit einer grundlegenden Auseinandersetzung zu tun”

Die EU steht vor einem heiklen Problem: einerseits muss sie begreifen, dass sich die Mitgliedstaaten jeder für sich in Europa „zu Hause” fühlen wollen. Andererseits steht sie vor Problemen, die nur mit vereinten Kräften lösbar sind, meint der niederländische Schriftsteller Geert Mak im ersten Teil seiner Rede auf einer von Trouw organisierten Konferenz zum Thema Europa.

Veröffentlicht am 3 Oktober 2013 um 11:38

Jeder kennt dieses Gefühl, das ich empfinde, wenn ich an mein Dorf Jorwert denke, auch wenn es dafür in nahezu jeder Sprache ein anderes Wort gibt: Vom gemütlichen „Home” über den „Ort” voller Stolz bis hin zur so bedeutsamen „Heimat”. Wir alle meinen damit aber dasselbe: Den Ort, an dem wir uns zu Hause fühlen. Der „Raum” steht wiederum für etwas Dynamisches, für all die Möglichkeiten, aber auch die Risiken und die Unordnung, die beide unvermeidbar sind, wenn man über den eigenen Tellerrand hinausblickt und unkonventionell handelt.

„Ort und Raum” waren beides Themen, die dem französischen Philosophen Michel de Certeau ganz besonders am Herzen lagen, bevor sich der europäische Denker – und Präsident des Europäischen Rates – Herman Van Rompuy ihnen später noch intensiver widmete. Europa war und ist der Raum schlechthin: Er strebt nach dem freien Waren-, Kapital-, Personen- und Dienstleistungsverkehr, schafft neue Möglichkeiten, aber auch die zwangsläufig damit verbundenen Unruhen und Risiken.

Teuflische Schwäche

In Europa gibt es die Spannung zwischen „Ort” und „Raum” seit Jahrhunderten. [Hier] ist es möglich, an nur einem einzigen Tag mindestens vier unterschiedliche Sprach- und Kulturregionen zu durchqueren. Diese außerordentliche Vielfalt ist schon immer unsere Stärke gewesen. Gleichzeitig ist sie – und die mit ihr verbundene Rivalität aber auch unsere teuflische und ungeheuerliche Schwäche.

Sie kennen die Geschichte: Um diesem Schicksal zu entrinnen, führte man mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ein historisches Experiment einer supranationalen Führungsebene durch. Und in der Tat war das europäische Projekt mindestens fünf Jahrzehnte lang durchaus von Erfolg gekrönt. Und in vielerlei Hinsicht ist das auch heute noch der Fall. Genau das darf man einfach nie vergessen. Dafür braucht man sich nur einmal mit Polen, Esten oder anderen Bewohnern der ehemaligen Ostblockstaaten unterhalten. Anderenorts aber toben seit 2010 Unwetter und lodern Torffeuer. Und ein Ende ist längst nicht in Sicht. Und selbst wenn die Union diese Krise eines Tages überwinden sollte, wird sie bleibende Schäden davontragen.

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[[In Europa stehen sich die Länder so nahe und sind so eng miteinander verbunden, dass die Mitgliedsstaaten gar nicht anders können, als sich in die Innenpolitik des einen und die Haltungen der anderen einzumischen]]. Heutzutage ist es vor allem die interne Schwäche einiger Mitgliedsstaaten, welche die Union regelmäßig an den Rand des Abgrunds treibt. Wie aber können wir auch vom „Raum” aus auf den „Ort” Einfluss nehmen?

Günstlingswirtschaft und Schirmherrschaft

Ist es beispielsweise möglich, das völlig gestörte Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem [Sektor] in den ehemaligen Ostblockländern wie von Zauberhand zu beseitigen? Und gilt das nicht auch noch vielmehr für die tief verwurzelten klientelistischen Traditionen in den meisten Ländern Südeuropas? Mit anderen Worten: Übt diese europäische Mischung aus Verwarnungen, Zuschüssen, Abzügen und nur äußerst selten vollzogenen Strafen wirklich irgend so etwas wie einen Einfluss auf das Phänomen „Ort” aus? Ganz gewiss, wie der Fall Griechenland beweist: [Hier] glaubte man, ein Wirtschaftssystem hauptsächlich mithilfe von Sparmaßnahmen modernisieren zu können, wodurch man die Opfer gleich wieder in neue Abhängigkeiten getrieben und sie der Gunst der Freunde und Familien unterworfen hat.

Und was kann man schon gegen die Schulden- bzw. Schuldigkeits-Moral tun, die sich überall breit macht? Die Moral der Sanktionen und Ausgabenkürzungen, die in den letzten Jahren in den deutschen und niederländischen Köpfen den Ton angegeben hat? Diese Moral, die sich unsere Regierungsparteien noch immer mit entgegenkommender Dummheit zu Eigen machen, obwohl sie längst vom Rest der Welt – und übrigens auch vom IWF – bestürzt beäugt wird, weil sie jede Konjunkturbelebung in der Eurozone drosselt, wenn nicht sogar verhindert?

Der Preis, der für all das gezahlt werden muss, ist einfach zu hoch. Vor allem für den Süden. Das wissen wir alle. Selbst hier, im Norden. Auch wenn sich nur selten ein niederländischer Politiker zu diesem Thema äußert. Und ganz zu schweigen von dem außerordentlich hohen moralischen Preis, den eine neue Generation zahlen muss, deren Vertrauen zerstört wurde.

Mehr Integration, zumindest in Brüssel

Wie wird sich all das auf den europäischen „Raum” auswirken? Und was wird innerhalb dieses Katastrophengebiets Europa aus dem Verhältnis zwischen „Raum” und „Ort”, der Beziehung zwischen Jorwert und Brüssel werden?

In den vergangenen fünf Jahren haben wir zwei Vertrauenskrisen durchgemacht: In den Jahren 2008 und 2009 eine Bankenkrise, und anschließend, seit Anfang des Jahres 2010 eine Währungskrise, deren Wogen sich seit letztem Jahr wieder ein wenig geglättet haben, die aber längst nicht ausgestanden ist.

Schauen wir uns einmal die Auswirkungen auf Brüssel an, sehen wir, dass die Institutionen der Union unglaublich widerstandsfähig waren und der Katastrophe erfolgreich die Stirn geboten haben. Maßnahmen wurden ergriffen und Strukturen geschaffen, die bis vor Kurzem noch undenkbar schienen. Natürlich ist der Grundstein, der momentan am dringendsten gebraucht wird – die Europäische Bankenunion noch nicht gesetzt, aber im Grunde genommen hat die Krise doch ganz eindeutig für mehr Integration gesorgt. Zumindest dort, in Brüssel.

Außerhalb der europäischen Hauptstadt sieht es allerdings ganz anders aus. Dort wurde ein ganz entgegengesetzter Prozess ausgelöst: Ein Prozess der Des-Integration, [kurzum ein Zerfallsprozess]. Nehmen wir nur einmal das Beispiel der Wirtschaft der Eurozone: Im Durchschnitt zahlt ein italienischer Unternehmer heutzutage im Vergleich zu seinem deutschen Kollegen doppelt so viele Zinsen. [[Vor unseren Augen entsteht ein Europa der zwei, drei und vielleicht sogar noch mehr Geschwindigkeiten]].

Unausgewogene Kräfteverhältnisse

Der Zerfallsprozess macht sich aber auch in den politischen Debatten in Europa bemerkbar: Bei der Frage, wie man mit der Krise umgehen solle, gehen die Meinungen stark auseinander und machen deutlich, wir tiefgreifend die Unterschiede der politischen und wirtschaftlichen Kulturen sind. Folglich verstehen die Franzosen und Italiener – die ihre Schulden stets mithilfe der Abwertung in Luft aufgelöst haben – ganz einfach nicht, warum die Deutschen eine solche Urangst vor der Inflation haben.

All das bringt auch die europäischen Kräfteverhältnisse aus dem Gleichgewicht: Der Motor des europäischen Einigungsprozesses – die Achse Paris-Berlin – stottert immer häufiger. Nach Spanien und Italien droht nun auch Frankreich bald zu einem Problemfall zu werden. Deutschland muss die Führung übernehmen, kann es aber nicht und wagt es nicht. Seine Vergangenheit wiegt einfach zu schwer.

Tief verwurzelte Traditionen

In der Zwischenzeit hat das Vertrauen der Bürger in das europäische Experiment rasend schnell abgenommen. Das Ergebnis der kommenden Europawahl wird wie ein Spiegel dieses Misstrauen sein: Den Umfragen zufolge werden die rechtsextremen Parteien im Europäischen Parlament immer mehr Sitze bekommen.

Alles in allem haben wir es hier mit einer grundlegenden Auseinandersetzung zu tun, bei der nicht nur [unterschiedliche] politische Vorstellungen, sondern auch tief verankerte europäische Traditionen aufeinanderprallen. [[Selten war das Gleichgewicht zwischen all den verschiedenen Formen von „Raum” und „Ort” in Europa so sehr gestört wie heute]]. Könnten wir dieses Gleichgewicht wiederherstellen, indem wir uns auf das System der Nationalstaaten des neunzehnten Jahrhunderts rückbesinnen?

Dies ist der erste Teil des von Geert Mak gehaltenen Vortrags auf der von Trouw und dem niederländischen Kulturzentrum De Rode Hoed organisierten Europa-Konferenz. Fortsetzung folgt...

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