Spanische Fans in Wien beim Euro-Finale 2008.

WM, Opium fürs Krisenvolk

Die Fußballweltmeisterschaft, die am heutigen 11. Juni beginnt, ist weit mehr als nur ein sportliches Ereignis. Sie ist zu einem soziologischen Phänomen geworden, das die Realität übertrumpft. Zum Beispiel in Spanien, einem Land in Schwierigkeiten, das jedoch auf dem Spielfeld zu den Favoriten gehört.

Veröffentlicht am 11 Juni 2010
Spanische Fans in Wien beim Euro-Finale 2008.

Wenn alles schief geht, bleibt uns immer noch der Fußball. Kein anderes Schauspiel der Welt kann so viele kollektive, in allen Breitengraden einander ähnelnde Leidenschaften entfachen. Das Geheimnis dieser massiven Unwiderstehlichkeit liegt darin, dass sie auf emotionaler Ebene abläuft, und zwar in einer Sprache, die universale Gefühle artikuliert: Kampfgeist, Herausforderung, Zugehörigkeit, tribale Identität.

Sie besitzt die plastische Schönheit des Sports, das moralische Über-sich-selbst-Hinauswachsen, die geistige Komplexität der Strategie und beruht dabei auf einer der instinktivsten Gesten überhaupt: dem Anstoß eines rollenden Objekts mit dem Fuß. In Assoziation mit Massenkultur, Freizeitindustrie sowie den Branchen Marketing und Werbung ist der Fußball zur Metapher für die moderne Welt geworden und hat alle politischen Vorurteile und kulturellen Bedenken nacheinander über den Haufen geworfen: Entfremdung, Brutalität, Sexismus. Frauen, Politiker und Intellektuelle haben sich letztendlich einem dem Bann gänzlich erlegenen Publikum angeschlossen. Der Fußball ist ein weltumspannendes, demokratisches, universalistisches Phänomen: ein unvergleichliches Emblem der globalisierten Gesellschaft.

Die WM ist das oberste Ritual der neuen Fußballreligion. Ihre Dimension als internationaler Wettstreit symbolisiert die identitätsstiftende Struktur der nationalen Massen und verleiht ihr eine enorme Anziehungskraft und Sozialdynamik. Selbst innerhalb einer Gemeinschaft wie Spanien, dessen verschiedene Identitätsgruppen ständig miteinander in Konflikt stehen, schaltet die Teilnahme der Roja, der spanischen Mannschaft, [regionale] Eigenheiten aus und stichelt die Fetzen des Nationalgefühls mit dem unsichtbaren Faden einer kollektiven Selbstachtung zusammen. Durch die sich letztens häufenden Siege wurde der übliche, historische Pessimismus ausgelöscht und durch eine Welle des Stolzes ersetzt. Zum ersten Mal seit vielen Jahren besitzt die spanische Elf einen ganz eigenen Stil, die Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen, und eine triumphierende Entschlossenheit. Diese Mannschaft verkörpert ein Land ohne Komplexe, mit einer neuen Siegermentalität, die vielleicht keine andere Gegenanzeige hat als die Euphorie.

Spanien kandidiert für den Triumph, zwar nicht als Favorit, aber der Anspruch an sich stellt schon einen entscheidenden Fortschritt dar. Unsere krisengebeutelte Regierung erlaubt sich selbst, an den tröstlichen Optimismus zu glauben, den ein Sieg darstellen würde. Das Thema ist nicht leichtfertig: In einem erbärmlichen, von Verarmung und Bankrott geprägten Klima, in einer heruntergekommenen und defätistischen sozialen Landschaft, lässt der Fußball die vorherrschende Stimmung umschlagen und eröffnet uns in seiner scheinbaren Trivialität eine objektive Hoffnung auf einen Sieg. Eine Botschaft der Hoffnung in einem verwüsteten Panorama. Wer könnte da meinen, es handle sich nur um ein Spiel? (pl-m)

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