Welches Europa braucht die Welt?

Für den Soziologen Alain Caillé, den Ingenieur Thierry Salomon und den Philosophen Patrick Viveret ist allein eine Meta-Nation in Form einer Europäischen Republik der derzeitigen dreifachen Herausforderung des Klimawandels, der Bekämpfung von Ungleichheiten und der demokratischen Verantwortung gewachsen.

Veröffentlicht am 30 April 2019 um 14:51

Die Menschheit steht heute vor der dreifachen Herausforderung des Klimawandels, der Explosion von Ungleichheiten und der Erosion humanistischer und demokratischer Werte, die zu einem Prozess der De-Zivilisierung führen. In diesem Zusammenhang müssen wir über die Zukunft Europas nachdenken, indem wir uns fragen, wie wir uns diesen Herausforderungen stellen können, aber auch, welches Europa die Welt braucht. Unterdessen regt das europäische Projekt niemanden mehr zum Träumen an. Durch die Überwindung der Grenzen der Nationalstaaten sollte ein dauerhafter Frieden garantiert werden.

Mit der Schaffung eines großen Marktes sollte der wirtschaftliche Wohlstand gesichert werden. In Wirklichkeit ist Europa aber in sechs oder sieben Blöcke geteilt, mit unbeständigen Umrissen und unterschiedlichen Interessen. Zudem verunmöglicht die Einstimmigkeitsregel innerhalb der EU alle wesentlichen Fortschritte. Das von den Finanzmärkten und Steueroasen, sowie den Vereinigten Staaten, Russland, China und den Schwellenländern geschwächte Europa spricht nicht mehr mit der Welt und nicht einmal mehr mit sich selbst.

Europäische Notfälle

Gewiss hat sich Europa immer nur langsam entwickelt. Aber uns läuft die Zeit davon. Dafür gibt es mindestens drei Gründe: Erstens, obwohl die Menschen dem Euro verbunden bleiben, wächst der Zorn überall in Europa, weil sich die Lebensbedingungen verschlechtern. Außerdem fehlen der nötige Sinn sowie ein mobilisierendes Projekt. Zweitens ist die Zeit gekommen, einen ökologischen und energetischen Wandel voranzutreiben. Wenn sich Europa nicht entschlossen dafür einsetzt, wird es jegliche geopolitische Autonomie verlieren.

Drittens nimmt die Achtung des Pluralismus, der Menschenwürde und der Gedankenfreiheit auch in Europa ständig ab. Wenn die EU nicht mehr in der Lage ist, diese demokratischen Werte zu tragen und zu verkörpern, wer wird es dann tun? Und da dieses Ideal an sich nicht stark genug ist, muss das Europa, das dieses Ideal geboren hat und sich stets darauf beruft, endlich Verantwortung übernehmen, und ein Projekt der (Wieder-)Zivilisierung verkörpern, das sich den zunehmenden Barbareien entgegenstellt.

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Skizze einer Europäischen Republik

Europa dachte, es könne die Form des Nationalstaats überwinden. Doch überall auf der Welt sind es die Nationen, die sich behaupten und herausfordern. Das gilt auch für Europa selbst. Der nationale Rahmen ist bisher der einzige, in dem sich die Bürger in modernen Gesellschaften solidarisch miteinander fühlen, geschützt und beruhigt durch diese Solidarität. Es wäre jedoch gefährlich, zu den traditionellen Formen der Nation zurückkehren zu wollen, die auf der fiktiven Identität zwischen einem Volk, einem Gebiet, einer Sprache, einer Kultur und einer Religion beruhen. Wie können wir diese doppelte Forderung nach Solidarität und Vielfalt also in Einklang bringen? Wie können wir ein Europa neu begründen, das Nation und Macht überwindet, die dennoch beide für die Verwirklichung des demokratischen Ideals notwendig sind?

Es gibt einen Weg: Der Aufbau einer Meta-Nation, einer Nation von Nationen, einer Europäischen Republik.

Diese Republik wäre sowohl durch das republikanische Prinzip geeint als auch durch ihre staatenbündische Dimension dezentralisiert und würde dem Subsidiaritätsprinzip somit einen sehr großen Spielraum bieten. Mit einer souveränen Generalversammlung und einem Senat, der sowohl die Regionen als auch die Organisationen der Zivilgesellschaft (Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Vereine, usw.) vertritt, würde diese Republik von einer kleinen Regierung regiert, die für die Umsetzung einer gemeinsamen Sozial-, Wirtschafts-, Finanz-, Energie-, Wissenschafts-, Diplomaten- und Militärpolitik zuständig wäre, sobald sie vom Parlament verabschiedet wurde. Eine per Los bestimmte Bürgerversammlung (eine Art permanente Konsenskonferenz) hätte eine beratende Funktion, wäre aber befugt, die nicht berücksichtigten Vorschläge einer Volksabstimmung zu unterziehen.

Ein solches Projekt für Europa mag heute utopisch erscheinen. Sollten wir vergessen haben, dass genau das der Traum seiner Gründerväter war?

Drei Hauptgründe

Nur eine Europäische Republik wäre in der Lage, die drei großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.

1.Der Klimawandel

Das europäische Projekt nahm 1952 in Form einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Gestalt an. Allerdings sind allein die heutigen französischen und deutschen energiepolitischen Maßnahmen dramatisch gegensätzlich und wettbewerbsorientiert, obwohl sie sich bemerkenswert ergänzen und kooperativ sein könnten.

Innerhalb einer Europäischen Republik ist eine gemeinsame, einheitliche und aufeinander abgestimmte Energiepolitik erforderlich. Angesichts der Herausforderungen und Risiken von Klima und Energie besteht das einzig vernünftige mittelfristige Ziel (2040 -2050) darin, ein „Dreifaches-Null-Ziel“ zu erreichen:

  • Null Netto-Treibhausgasemissionen („Klimaneutralität“);
  • Null fossile Energieträger (Kohle, Erdöl und fossiles Gas);
  • Null giftige Abfälle (was einen Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet).

2.Der Kampf gegen Ungleichheiten

Kein Volk duldet mehr die 0,1 Prozent der extrem reichen Menschen, oder die multinationalen Konzerne, die schwindelerregende Vermögen anhäufen, indem sie sich dank der „Steueroptimierung“ (einer durch die Existenz von Steueroasen ermöglichten Umgehung der Steuern) massiv von der Zahlung aller oder eines Teils ihrer Steuern befreien. Nur eine Europäische Republik, die in wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und verteidigungspolitischen Fragen ausreichend stark ist, wird in der Lage sein, die Steuergerechtigkeit durchzusetzen und sicherzustellen, dass der Wettbewerb nicht durch Steuerdumping und den Wettlauf um möglichst preisgünstige wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte verzerrt wird. Die am weitesten entwickelten sozialen Rechte können dann nicht in Frage gestellt werden.

3.Wiederbelebung des demokratischen Ideals

Für viele, vor allem für viele junge Menschen, sind demokratische Ideale nicht mehr sinnstiftend. Die Menschen haben immer weniger Vertrauen in ihre gewählten Vertreter, sowie in ihre Behörden und die Technokratie in Brüssel. Dieser doppelte Vertrauensbruch wird durch ein starkes Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber den Märkten und durch den Sinnmangel des laufenden europäischen Projekts verstärkt. Nur eine Europäische Republik, die in der Lage ist, sich den klimatischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen (aber auch den Problemen der Verteidigung und der Aufnahme von Migranten) zu stellen, kann wieder Sinn und Hoffnung geben.

Wer könnte die Europäische Republik gründen?

Europa ist in einer Art Wettspiel gefangen. Entweder wird es wieder an das anknüpfen, was einst erfunden wurde, und dies auf den neuesten Stand bringen, oder es wird von der Weltbühne verschwinden. Entweder zur Erfindung verallgemeinbarer Normen beitragen oder in dem vor uns liegenden Chaos untergehen. Sich ein für allemal vereinen oder aus der Geschichte auszusteigen, und nur noch im Verzicht auf all das zu existieren, woran die Völker Europas einst geglaubt haben. Werden wir in der Lage sein, unseren Chauvinismus zu überwinden, um eine Meta-Nation aufzubauen, oder werden wir uns rückläufig entwickeln? Zumindest muss diese Frage gestellt werden.

Das können weder die Vertreter von Unternehmen, die zu sehr von den Märkten abhängig sind, noch die derzeitigen politischen Parteien, die sich auf die nationalen Gebiete beschränken. Dementsprechend muss die europäische Zivilgesellschaft diese Aufgabe übernehmen, und sich um diesen undurchsichtigen, lebendigen und vielgestaltigen Nebel von Vereinen, Nichtregierungsorganisationen und Verbänden der Sozial- und Solidarwirtschaft kümmern. Es ist höchste Zeit, eine Debatte einzuleiten, die den Völkern Europas wieder Hoffnung gibt. Haben wir nicht eine gemeinsame Vergangenheit, die allzu oft entsetzlich grausam war, und strotzen wir nicht dennoch vor künstlerischen, technischen, wissenschaftlichen und politischen Glanzleistungen? Unsere Zukunft muss erst noch erfunden werden.

Wer würde sich ganz wesentlich und aktiv für die Europäische Republik einsetzen? Alle Staaten oder Völker Europas, die dies wünschen und sich der dreifachen Herausforderung anschließen: Der Kampf gegen die globale Erwärmung, die Steuerhinterziehung und die Erosion der demokratischen Werte. Allerdings ist klar, dass diese Republik nicht in der Lage sein wird, das Tageslicht zu erblicken und eine kritische Größe zu erreichen, ohne dass sich zu Beginn zwei oder drei der großen europäischen Länder daran beteiligen.

Unter dieser Voraussetzung wird Europa wieder einen Teil der Stärke zurückgewinnen können, von der es jeden Tag ein wenig mehr verliert. Aber mit der Überzeugung, dass diese Macht nicht das Ziel selbst ist, zumal wir ihre Grenzen kennen, beziehungsweise ihre Verbrechen: Siehe Imperialismus oder Kolonialismus. Die Welt braucht kein dominant herrschendes Europa, sondern ein schöpferisches Europa.

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