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Großes Comeback für die Gewerkschaftsbewegungen in Europa?

Seit etwa zehn Jahren sind in den Ländern der Europäischen Union tiefgreifende Veränderungen des Arbeitsmarktes zu beobachten, die die schützende Rolle der Gewerkschaften beeinträchtigen. Von einem Land zum anderen wird versucht, sich angesichts der zunehmenden Prekarisierung bestimmter Beschäftigter anzupassen, die sich in hybriden Formen organisieren, um ihre Kämpfe zu führen.

Veröffentlicht am 22 Juni 2024 um 09:00

Das ist ein erster Sieg. Am 11. März 2024 haben die Arbeitsminister*innen der 27 EU-Länder eine Einigung über den Entwurf einer Richtlinie über die Plattformarbeit gebilligt. Es handelt sich dabei um den ersten europäischen Gesetzestext, der Mindeststandards zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der 28 Millionen Beschäftigten von Plattformen wie Uber oder Deliveroo festlegen soll. 

„Das ist natürlich ein Erfolg, zumindest ein symbolischer. Seit Jahren setzt sich der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) bei den Abgeordneten und der Kommission für eine Regulierung der Plattformökonomie ein“, merkt der Politikwissenschaftler Kurt Vandaele an, der den Kampf der Kurier*innen in Belgien verfolgt und dokumentiert hat.

Zwei Länder unterstützten das Abkommen nicht: Deutschland enthielt sich der Stimme, und Frankreich stimmte dagegen. „Von nun an wird alles von der Umsetzung der Richtlinie und ihrer Implementierung in den Mitgliedstaaten abhängen. Und auch die Lobbying-Macht der Plattformen darf nicht vergessen werden. Der Weg bleibt lang und schwierig“, schränkt Vandaele ein. Aber ein Erfolg bleibt ein Erfolg, und in den letzten Jahren waren diese auf sozialer Ebene selten.

Schwächung der Gewerkschaften?

Seit den 1980er Jahren ist in den meisten westlichen Ländern eine Schwächung der Gewerkschaften zu beobachten, die mit den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt einhergeht: explosionsartige Zunahme der Vergabe von Unteraufträgen und des Outsourcings von Dienstleistungen – insbesondere in den Bereichen Reinigung und Haushaltshilfe –, Zersplitterung und Prekarisierung der Beschäftigten durch die Entwicklung von Hybrid- und Kleinunternehmer*innenstatus, Zersplitterung der Beschäftigungsverhältnisse ...

Überall sahen sich die Gewerkschaften mit Strukturreformen konfrontiert, die ihre Funktionsweise in Frage stellten.


„Gewiss, der erste Schritt besteht in der Tat darin, in ‚Zonen ohne Gewerkschaften‘ vorzudringen.“ -  Wirtschaftswissenschaftler Jacques Freyssinet


Nach den gewerkschaftlichen Organisationsgraden in Europa zu urteilen blieb dieser Trend in den letzten Jahren unverändert, obwohl die Mitgliederzahlen nach der Pandemie und infolge der steigenden Lebenshaltungskosten wieder gestiegen sind. „Es reicht nicht, den gewerkschaftlichen Organisationsgrad zu betrachten“, analysiert die Soziologin Cristina Nizzoli, Autorin von C'est du propre! Syndicalisme et travailleurs du „bas de l'échelle“ (Marseille und Bologna), (PUF, 2015). „Wichtig ist es, zu verstehen, welche Gründe es für den Gewerkschaftsbeitritt gibt und was der Gewerkschaft Sinn verleiht. Wenn man zum Beispiel die Mobilisierung anlässlich der Rentenreform in Frankreich im Jahr 2023 sieht, scheint es mir falsch, von einem Niedergang der Gewerkschaftsbewegung zu sprechen.“

Dasselbe sagt Kurt Vandaele, der an das Ausmaß der Mobilisierungen der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst in den Niederlanden Anfang 2023 erinnert, oder an den neuartigen Kampf von 1.000 Tesla-Beschäftigten in Deutschland, die sich der mächtigen Automobilindustriegewerkschaft IG Metall anschlossen, um bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen.

Der Wandel auf dem Arbeitsmarkt bringt die traditionellen Gewerkschaftsorganisationen stattdessen dazu, ihre Praktiken in Frage zu stellen und Aktionsziele neu zu definieren.

Cristina Nizzoli befasst sich mit Sektoren, in denen die Arbeitskräfte zunehmend eingewandert, weiblich und rassifiziert sind. Sie hat den Fall der Beschäftigten im Reinigungsgewerbe in Frankreich und Italien untersucht. „Es ist erstaunlich, wie prekär beschäftigte Arbeitnehmerinnen mit – nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht – geringen Ressourcen es schaffen, monatelange Kämpfe zu führen […]. Die Besonderheiten sind nicht dieselben wie bei den Plattformbeschäftigten. Interessant zu beobachten ist jedoch die Art und Weise, wie diese Kämpfe und Mobilisierungen die traditionelle Gewerkschaftsbewegung auf die Probe stellen, insbesondere in Bezug auf ihre Struktur und die Art und Weise, wie sie die Beschäftigten repräsentiert“.

Die Anpassung ist nicht einfach. „Dies ist besonders in Ländern wie Frankreich und Italien der Fall, die über eine an die klassische Lohnarbeit angepasste konföderale Organisation verfügen“, präzisiert die Soziologin. Aufgrund der Zersplitterung der Lohnarbeit können Lebenshelfende, Haushaltshilfen oder auch Reinigungskräfte von mehreren Tarifverträgen abgedeckt werden. Der Zugang über die Verbände ermöglicht daher keinen umfassenden Blick auf ihre Arbeitsbedingungen.

Vor Ort beobachtet die Forscherin die zentrale Rolle, die dann die Orts- und Departementsverbände spielen, die „es ermöglichen, die Beschäftigten zu verankern und eine langfristige Bindung zu schaffen“. Der Weg über die lokalen Verbände ermöglicht es zudem, den Druck und die Repression der Arbeitgebenden an den Arbeitsplätzen zu umgehen. Dennoch, so betont Nizzoli, scheinen sich diese Gewerkschaften noch immer auf die Aktivitäten der historischen Aktivist*innen zu stützen, die die Aktivitäten der Ortsverbände beleben, ohne in dieser Richtung wirkliche Überlegungen anzustellen.

„Die Entwicklung des Outsourcing erfordert eine ‚netzwerkartige Gewerkschaftsbewegung‘ mit mehr Zusammenarbeit zwischen den bestehenden Gewerkschaftsstrukturen, aber auch die Änderung bestimmter Strukturen“, ergänzt Kurt Vandaele. „Ziel ist es, Vertrauen aufzubauen, das häufig auf anderen Sprachkenntnissen als der Muttersprache des jeweiligen Landes beruht.“

Vandaele erzählt, dass sich die Organisationsmacht der Essenslieferplattformen in Belgien und den Niederlanden im Jahr 2017 in digitalen Online-Gemeinschaften und Selbstorganisation in Aktivist*innengruppen niedergeschlagen hat. „Die von den Kurier*innen erzeugte Diskursmacht spielte eine große Rolle […]. Da die Plattformökonomie noch ein relativ neuer Sektor ist, ergreifen die traditionellen Gewerkschaften nicht bewusst Initiative, aber sie hören sich die Beschwerden und Vorschläge der Kurier*innen aktiv an“, bemerkt Kurt Vandaele.

In Zonen ohne Gewerkschaften vordringen

In den angelsächsischen Ländern werden seit langem Strategien entwickelt, die als „Organizing“ bezeichnet werden und bei denen territoriale und gemeinschaftliche Verankerungen genutzt werden, um bestimmte Kategorien von Beschäftigten wie Eingewanderte, Frauen oder prekäre Jugendliche anzusprechen. „Wir befinden uns wirklich außerhalb des Bereichs des Unternehmens und der traditionellen Gewerkschaftsvertretung, mit dem Rückgriff auf militante Figuren, die über die Gemeinschaften gehen, z. B. die Kirche, eine ethnische Gemeinschaft oder eine Gemeinschaft gleicher Herkunft ...“, führt Cristina Nizzoli detailliert aus.

Das Ziel geht über die einfache Suche nach Mitgliedern in schwach gewerkschaftlich organisierten Gruppen hinaus. Es besteht darin, das Empowerment dieser Bevölkerungsgruppen anzustreben. Das erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Freyssinet: „Gewiss, der erste Schritt besteht in der Tat darin, in ‚Zonen ohne Gewerkschaften‘ vorzudringen. Das Endziel lautet, dort die Schaffung dauerhafter Gewerkschaftsstrukturen anzuregen, die die Beschäftigten in die Lage versetzen, ihre Forderungen und Aktionsformen autonom zu definieren“.

Diese Praxis wurde übrigens von den deutschen Gewerkschaften übernommen, um der wachsenden Nachfrage der Unternehmen nach Leiharbeiter*innen, insbesondere in der Metallindustrie, entgegenzuwirken. Wie Jacques Freyssinet in Tensions et ambiguités dans la stratégie d'organising berichtet, musste die größte Metallgewerkschaft, die IG Metall, ihre institutionelle Strategie, die sich auf den gewerkschaftsübergreifenden Verhandlungsansatz konzentrierte, in Frage stellen und ihr Aktionsrepertoire erneuern.

Auf Initiative der Gewerkschaftszentrale in Frankfurt wurde ein Innovationsfonds zur Förderung der gewerkschaftlichen Organisierung eingerichtet (in Höhe von 16 bis 20 Millionen Euro pro Jahr). Die neue IG-Metall-Führung gibt auch Impulse für die Einstellung junger hauptamtlicher Beschäftigter, die bereits Erfahrungen in sozialen Bewegungen gesammelt haben. Die auf zentraler Ebene freigesetzten Ressourcen werden in Organisierungskampagnen in gewerkschaftlich schwach organisierten Sektoren gelenkt. Zwischen 2010 und 2016 ist die Mitgliederzahl der IG Metall von 1,8 auf 2,2 Millionen gestiegen.

Wiederherstellung des Kollektivs

Die Kämpfe von prekär Beschäftigten außerhalb der „klassischen“ Lohnarbeit finden auch dank der Unterstützung von außergewerkschaftlichen Akteur*innen statt. Der Fall des Kollektivs Las Kellys, das 2014 in Spanien entstand, war emblematisch: Die Vereinigung umfasst mobilisierte Zimmermädchen, die entschlossen sind, gemeinsam zu kämpfen, da die Unterstützung der großen Gewerkschaftsbünde fehlt. Die zum Teil eingewanderten und kaum gebildeten Frauen prangern die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und ihre unsichere Situation an, die mit dem in der Hotelbranche üblichen System der Untervergabe von Aufträgen zusammenhängt.

„Das militante Netzwerk ist sehr nützlich, damit die Kämpfe über einen längeren Zeitraum andauern, um Finanzierungen, Streikkassen usw. zu erhalten. Ich achte jedoch darauf, nicht Neues zu finden, wo es nicht unbedingt vorhanden ist. Wir haben ab den 1990er Jahren vielfach Mobilisierungen von Beschäftigten ohne Papiere beobachtet, die stark von militanten Kollektiven unterstützt wurden“, erklärt Cristina Nizzoli.

Die Mobilisierungen und die Nähe zu den gewerkschaftlichen Akteur*innen vor Ort sind vor dem Hintergrund der Zersplitterung des Arbeitsmarktes umso wichtiger. „Die Haushaltshilfen treffen sich nie und haben keine gemeinsamen Momente mehr, um zusammenzukommen und über die Arbeit zu sprechen. So wird die Gewerkschaft, wie ich sie bei meinen Recherchen sehe, für diese prekären Sektoren zu einem primären Ort für die Sozialisierung der Arbeit“, fährt die Forscherin fort.

Die Herausforderung der Repräsentation und Repräsentativität

In den letzten Jahren ist ein Trend zur Feminisierung der Gewerkschaften nicht zu leugnen. Mit Frauen als Gewerkschaftssekretärinnen ist die Veränderung nicht nur symbolisch, sondern ihre Präsenz in Verantwortungspositionen ermöglicht es, die Frage der Frauen, die in prekären Sektoren de facto überrepräsentiert sind, stärker in den Vordergrund zu rücken.

Laut dem Bericht des Ausschusses für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter in Europa, der dem Parlament im Juni 2022 vorgelegt wurde, „war das Risiko von Armut oder sozialer Ausgrenzung in der Europäischen Union, im Jahr 2020 bei Frauen höher als bei Männern (22,9 % im Vergleich zu 20,9 %)“, und die Kluft zwischen Frauen und Männern in Bezug auf Armut hat sich seit 2017 in 21 Mitgliedstaaten vergrößert. 

Obwohl in den letzten zehn Jahren auf EU-Ebene mehrere Standards zur Bekämpfung prekärer Beschäftigung, insbesondere von Frauen, verabschiedet wurden, sind Frauen nach wie vor häufiger von prekärer Beschäftigung betroffen als Männer. „Diese Überrepräsentation ist unter anderem auf die unverhältnismäßig lange Zeit zurückzuführen, die Frauen für Kinderbetreuung und Hausarbeit aufwenden, die beide unbezahlt und weitgehend nicht anerkannt sind“, analysiert die Abteilung für Bürgerrechte und Verfassungsangelegenheiten des Europäischen Parlaments im Jahr 2020.

Ein weiterer Faktor ist „teilweise sozial konstruierte Berufswahl und Geschlechtersegregation“, was sich in einer hohen Prävalenz prekärer Frauenarbeit in den Bereichen Pflege, Erziehung, Reinigung, Tourismus und persönliche Dienstleistungen niederschlägt, die alle einen besonders hohen Anteil an Teilzeitarbeit aufweisen, die oft mit dem Ausschluss von Sozialleistungen verbunden und bei Beförderungen benachteiligt ist. 

„Man muss alles analysieren, was die Tatsache, eine rassifizierte Frau aus der Arbeiter*innenklasse zu sein, in Bezug auf Stigmatisierung und Materialität der sozialen Beziehungen bedeutet. Es gibt jedoch noch immer einen Mangel an gewerkschaftlicher Reflexion über diese pluralen Faktoren, so dass man letztendlich beobachten kann, dass die Personen, die während der Kämpfe anwesend waren, im Laufe der Zeit verschwinden. Wir haben es mit Frauen zu tun, für die es in jeder Hinsicht viel teurer ist, sich zu engagieren, und die Gewerkschaft bietet ihnen nicht immer Raum, um sich intern weiterzuentwickeln“, betont Cristina Nizzoli.

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