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Tatiana Țîbuleac: „In Osteuropa sind wir nicht sehr gut darin, Traumata zu bewältigen“

Tatiana Țîbuleac, eine der wichtigsten aufstrebenden Stimmen der moldawischen Gegenwartsliteratur, spricht über ihren Werdegang als Schriftstellerin und ihr Verhältnis zu Migration und Sprache vor dem Hintergrund des EU-Beitritts Moldawiens und des Krieges in der Ukraine.

Veröffentlicht am 30 August 2024
Tatiana Tibuleac

Die Journalistin und Schriftstellerin Tatiana Țîbuleac wurde 1978 in Chișinău in Moldawien geboren und lebt in Paris. Ihre Bücher wurden in Rumänien und Spanien mit Preisen ausgezeichnet. Im Jahr 2019 erhielt sie für „Grădina de sticlă“ (zu Deutsch „Der Glasgarten“) den Literaturpreis der Europäischen Union. Voxeurop veröffentlichte ihren Beitrag zur Reihe Archipel UdSSR.

Voxeurop: Dein Buch Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte (Schöffling & Co, 2021), handelt von einer europäischen Geschichte, einer Familie polnischer Migrierender, die sich in Frankreich niedergelassen hat. Warum hast du dich nicht entschlossen, über deine Landsleute zu schreiben? 

Tatiana Țîbuleac: Vielleicht weil ich dieses Buch in Paris geschrieben habe, kurz nachdem ich selbst dorthin gezogen war. Ich war auch eine Migrantin, und alles erschien mir sehr kosmopolitisch. In den ersten Jahren im Ausland möchte man ein Mensch sein, der von überall her kommt, und nicht von einem bestimmten Ort. Der Roman entstand aus meiner – auch geografischen – Entfremdung von Moldawien und Chișinău, dem Ort, an dem ich geboren wurde und meine Ausbildung zur Schriftstellerin absolviert habe. 

Das sind Themen, zu denen ich oft zurückkehre, auch in meinem zweiten Roman, Der Garten aus Glas. Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte ist ein Buch, dem ich mich sehr nahe fühle, auch nach Der Garten aus Glas, dem Roman, mit dem ich mich am häufigsten identifiziere. Ich fühle mich diesem Universum so nahe, weil die Geschichte überall und jedem hätte passieren können. Ich weiß nicht, ob es eine europäische Geschichte ist – sie ist nicht an einen Ort gebunden. Ich wollte Personen erschaffen, die weder arm noch völlig unglücklich sind oder unter offensichtlichen Problemen zu leiden haben, denen alle Unglücke nacheinander und nicht alle auf einmal passieren.


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Laut der letzten Volkszählung (2024) erreicht die Bevölkerung in Moldawien nicht einmal 2,5 Millionen Einwohner*innen, fast eine Million weniger als vor zwanzig Jahren. Warum wandern Moldawier*innen aus?

Die Moldawier*innen wandern seit mindestens 30 Jahren aus. Es ist sehr wichtig, über die Unterschiede zwischen den ersten Migrationswellen und den späteren zu sprechen. Sie wandern vor allem wegen der Armut aus, aber nicht wegen derselben Armut wie in den 1990er Jahren, als die Löhne nicht gezahlt wurden und die Frauen aus den Dörfern weg gingen, um ihre Kinder mit Nahrung, Kleidung und Schulmaterial versorgen zu können.

Die Menschen streben seit jeher nach einem besseren Leben, das ist ihr Recht. Diejenigen, die heute auswandern, tun dies mit den erforderlichen Papieren, weil sie es sich leisten können, im Ausland zu studieren, weil sie wissen, dass sie dort Arbeit und ein angemessenes Gesundheitssystem finden werden. Es handelt sich um eine andere Art der Migration, ähnlich wie in anderen ärmeren europäischen Ländern, Spanien, Italien, Griechenland.

Die erste Migrationswelle war völlig anders: die Menschen verließen das Land illegal, was in der Hälfte der Fälle bedeutete, dass sie versklavt oder Opfer des Menschenhandels wurden. Frauen endeten als Prostituierte oder wurden als solche verkauft, Opfer des Menschenhandels. Diese Migration hat in Moldawien tiefe Wunden hinterlassen. Eine der schmerzhaftesten und noch nicht gründlich untersuchten Wunden ist jedoch die Migration, die viele Kinder ohne Eltern zurückgelassen hat.

Diese Generation, die ohne Mutter oder Vater aufgewachsen ist und der alleinigen Fürsorge der Großeltern, Geschwister oder älteren Kinder überlassen wurde, ist nun erwachsen und beginnt, ihre Geschichte zu erzählen. Diese ist von tiefer Traurigkeit und Leid geprägt. Natürlich wäre es besser, wenn niemand zur Auswanderung gezwungen wäre und jeder in der Nähe seiner Eltern und Verwandten in Wohlstand leben könnte. Aber ich würde nicht so weit gehen, die heutige Migration zu verteufeln – sie sollte als ein Menschenrecht angesehen werden. Ich bin Migrantin, aber ich kann nicht sagen, dass ich aus meinem Land geflohen bin. Wenn Moldawien der Europäischen Union beitritt, werden die Dinge nuancierter werden.

Welche Rolle spielen die Kinder, die in Moldawien geblieben sind, jetzt in der Gesellschaft? Sind sie auch ausgewandert?

Einige haben das Land verlassen, andere sind geblieben und haben ihre Mutter oder beide Elternteile seit dem Alter von 7-8 Jahren nicht mehr gesehen. Man stelle sich ein verlassenes Kind in diesem Alter vor, das aufwächst und von seiner Mutter nur Geld, Orangen, Handys und Kaugummis bekommt. Was für ein Erwachsener wird es werden? Als Schriftsteller*innen können wir spekulieren, aber es handelt sich um wichtige Geschichten, die erzählt werden müssen. Die Gesellschaft profitiert nicht von dieser Situation. Diese Erwachsenen werden ein immer wiederkehrendes Trauma haben, und wir müssen erst noch herausfinden, wie wir damit umgehen. In Osteuropa sind wir nicht sehr gut darin, unsere Traumata zu bewältigen. Das wurde bei schwerwiegenden Ereignissen wie Gewalt, Hungersnot und Deportationen deutlich. 

Wir sprechen nie darüber. Wir haben es vorgezogen, weiter zu gehen und sie zu verstecken – zum Teil, um zu überleben und zum Teil aus Desinteresse. Aber in beiden Fällen haben wir es mit einer Generation zu tun, die von all dem nichts weiß. Es ist schlimm, wenn ein Volk seine Vergangenheit vergisst.

Am 21. Mai 2023 hast du an einer großen pro-europäischen Demonstration in Chișinău teilgenommen. Moldawien wollte damit bestätigen, dass es zu Europa gehört. Ist das so?

Ich glaube ja. Ich glaube an Europa. Ich bin davon überzeugt, dass Moldawien seinen Platz in Europa hat und dass die Moldawier*innen Europäer*innen sein können und sind. Aber das ist nicht alles: Für mich wäre die Rückkehr unter den Einfluss Russlands ein Drama. Auch wenn ich nicht mehr in meinem Land lebe und nicht dorthin zurückkehren würde, möchte ich nicht, dass es wieder unter das Joch Moskaus fällt. Was sich in der Ukraine abspielt, ist eindeutig ein Szenario, das sich bereits im letzten Jahr in Moldawien hätte abspielen können, wenn sich unsere Nachbarinnen und Nachbarn nicht gewehrt hätten. Ich bin Europäerin und möchte, dass auch meine Freundinnen und Freunde Zugang zur EU haben, ohne gezwungen zu sein, ihr Leben in Moldawien aufzugeben.

Der Weg Moldawiens nach Europa begann offiziell am 25. Juni mit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen. Ist dies ein wichtiger Schritt?

Wichtig und schwierig, ganz eindeutig. Wir können nicht sagen, dass 100 Prozent der Moldawier*innen den EU-Beitritt wünschen. Es gibt auch diejenigen, die für pro-russische Parteien stimmen und den Krieg in der Ukraine nicht verurteilen. Aber sie haben europäische Pässe oder rumänische Dokumente und profitieren von allem, was Europa zu bieten hat. Ich kann die heuchlerische Haltung derjenigen nur bedauern, die ihre Kinder zum Studium nach Europa schicken, eine Krankenversicherung haben oder in europäischen Ländern Eigentum besitzen, aber diejenigen verurteilen, die diese Möglichkeiten nicht haben und gezwungen sind, das zu erleben, was gerade in der Ukraine geschieht. 

Dieser abscheuliche Krieg hat jedoch in Moldawien ein sehr positives Phänomen ausgelöst. Es gibt nicht mehr die Spaltungen zwischen Russinnen und Russen, Rumäninnen und Rumänen und Gagausinnen und Gagausen, die einige prorussische Parteien immer wieder schüren, weil man erkannt hat, dass Bomben keinen Unterschied machen. Manche Menschen würden gerne wieder unter den Einfluss Russlands fallen, das ist ihr Recht. Aber vielleicht ist es richtig zu sagen, dass auch Russland nicht mehr das ist, was es einmal war, denn nicht alle Russinnen und Russen sind wie Putin. Was mich betrifft, so hege ich nicht die geringste Nostalgie für die Vergangenheit. Ich möchte, dass Moldawien Teil der Europäischen Union wird.

Moldawien hat in den ersten Monaten der russischen Invasion der Ukraine rund 100.000 ukrainische Bürger*innen aufgenommen. Was verbindet die Moldawier*innen mit diesem Land?

Die Moldawier*innen sind in vielerlei Hinsicht mit der Ukraine verbunden. Das erste Ferienziel der Moldawier*innen war immer die Ukraine. Odessa zählt zu meinen Lieblingsstädten: Mit meiner Familie bin ich nicht in Rumänien ans Meer gefahren, sondern in der Ukraine. Uns verbinden Freundschaften, Geschäfte, gemischte Familien, Erinnerungen, Filme, ein Sinn für Humor. Dieses Land ist uns immer sehr nahe gewesen. Deshalb tut es mir leid, wenn Rumäninnen und Rumänen oder andere europäische Völker sagen: „Die Wahrheit liegt doch in der Mitte“, oder „in diesem Krieg sind beide Seiten schuldig“, oder „die Ukrainer*innen sind doch Russinnen und Russen“. 

Nein, das ist nicht der Fall, die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, sondern sie ist sehr offensichtlich und schmerzhaft. Die Wahrheit ist, dass Russland die Ukraine ausrottet. Es mag arrogant sein zu sagen, dass man stolz darauf ist, dass das eigene Land etwas für andere getan hat, aber für mich ist das Beispiel Moldawiens herausragend. Die Bündelung der Kräfte im Angesicht der Gefahr und die Art und Weise, wie sich die Menschen mobilisiert haben, indem sie die Ukrainer*innen willkommen hießen, macht mich stolz auf mein Land. 

Am 20. Oktober finden nicht nur Präsidentschaftswahlen statt, sondern auch das Referendum über den EU-Beitritt. Die Wiederwahl von Maia Sandu ist aufgrund der russischen Einmischung und Desinformation keine ausgemachte Sache.
Können die jungen Moldawier*innen etwas bewirken?

Natürlich, aber bewirken kann jeder etwas. Wie du sagst, gibt es Manipulation, es gibt offensichtliche finanzielle Interessen, es gibt diejenigen, die um jeden Preis an der Vergangenheit festhalten wollen. Es geht mehr um Nostalgie. In Moldawien werden viele dafür bezahlt, sie zu nähren und falsche Informationen zu verbreiten. Es schmerzt und beunruhigt mich, wenn die Intellektuellen dies tun, denn genau das ist in Russland passiert. Als die Intellektuellen Teil der Propagandamaschine wurden, ging alles zum Teufel. Niemand bezweifelt Talent, aber was man mit seinem Talent anfangen soll, ist eine Frage, die sich jeder stellen muss, der sich mit Kreativität beschäftigt. Ich bin zuversichtlich, dass Moldawien die richtige Wahl treffen wird.

Wie wird Moldawien in Europa gesehen? Kümmern wir uns genug um das Land?

Seien wir ehrlich: Die Europäer*innen wissen nicht viel über Moldawien. Viele haben gerade erst entdeckt, wo das Land auf der Landkarte liegt. Dasselbe gilt für die Ukraine. Die Moldawier*innen sind seit Jahren wegen Diebstahls, Menschenhandels und Prostitution in den Schlagzeilen. Das ist nicht sehr vertrauenserweckend, und die Europäer*innen werden nicht sofort von diesem neuen Mitglied der Europäischen Union begeistert sein. Aber so ist es mit allen Ländern, die zu einem anderen Kulturraum gehören, mit der Zeit haben sich die Dinge mehr oder weniger eingependelt. Ich glaube, dass die Moldawier*innen würdig in der EU leben, deren Regeln respektieren und ihren eigenen Beitrag leisten können.

Moldawien in der EU: Ein Weg zur Wiedervereinigung mit Rumänien?

Das weiß ich nicht, ich bin keine Politikerin. Diese Formel erscheint mir unter den gegenwärtigen Bedingungen kompliziert – dabei war sie es schon immer. Ich hätte mir gewünscht, dass es zur Wiedervereinigung kommt, wir haben so viele Gelegenheiten verpasst. Ich hätte mir eine Wiedervereinigung von Rumänien und Moldawien gewünscht, aber jetzt sind die Chancen dafür noch geringer als zuvor. Wer weiß, vielleicht finden die Politiker andere Möglichkeiten, und sie wird gelingen.

Was verbindet dich mit Rumänien? Fühlst du dich als moldawische oder als rumänische Schriftstellerin?

Ich habe mich immer als rumänische Schriftstellerin präsentiert, denn es gibt nur eine rumänische Literatur. Obwohl ich oft als moldawische Autorin zitiert werde, habe ich immer darauf bestanden, dass ich eine „rumänische Schriftstellerin aus Moldawien“ bin. Selbst wenn ich „aus Moldawien“ weglasse, bin ich immer noch eine „rumänische Schriftstellerin“. Wenn Moldawien Mitglied der EU wird, glaube ich nicht, dass ich mich sofort umstellen und mich dann als „Moldawierin“ bezeichnen könnte. Das hat mit einem Gefühl der Zuneigung zu tun, das mich an die rumänische Kultur bindet. Wir Bessarabier haben eine sensible Natur. Ich bin gerne eine rumänische Schriftstellerin.

Fühlst du dich als europäische Schriftstellerin?

Nein, denn ich glaube nicht, dass es eine europäische Identität gibt. Für mich bedeutet Europa, dass man in seiner eigenen Sprache schreiben kann und von denen, die in ihrer Sprache schreiben, verstanden wird. Ich kenne Autorinnen und Autoren in Paris, die auf Italienisch, Ungarisch, Bulgarisch schreiben und sich als Europäer*innen betrachten. In meinem Fall ist das anders. Ich weiß nicht, ob die Tatsache, dass ich in Europa lebe, mich zu einer europäischen Schriftstellerin macht. Ich denke, ich bin eine rumänische Schriftstellerin.

Welche Beziehung hast du zur russischen Sprache?

Eine Beziehung, die sich ändert, je nachdem, was im Namen dieser Sprache geschieht. Gleichzeitig ist die russische Sprache aber ein Teil von mir. Ich kann nicht sagen, dass ich sie nicht gelernt habe, dass ich nicht mit ihr aufgewachsen bin, dass ich sie nicht mag oder dass sie mir nicht viel bedeutet hat. Das alles trifft auf die russische Sprache zu. Ich wurde sehr von russischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern beeinflusst, und es gibt immer noch Filme auf Russisch, die ich liebe. Ich habe russische Freundinnen und Freunde. Es ist sehr wichtig, zwischen dem Putin-Regime und der russischen Sprache zu unterscheiden. 

Allerdings gebe ich zu, dass ich schon lange nicht mehr auf Russisch lese, aber nicht weil ich die Bücher verbrennen will. Das wird nie passieren, es sind die Bücher meiner Kindheit. Ich bewahre auch die rumänischen Bücher in kyrillischer Schrift auf, sie sind Teil meines Lebens. Gerade weil Russisch so wichtig für mich war, erlebe ich eine komplizierte und verwirrende Zeit. Es geht um sehr subjektive Fragen, die nicht jede(r) auf die gleiche Weise beantworten kann. Ich kenne Schriftsteller*innen in Moldawien, die die russische Sprache ganz aufgegeben haben – zumindest sagen sie das. Ich glaube nicht, dass das bei mir der Fall sein wird.

Dieser Artikel wurde im Rahmen des kollaborativen Projekts Come Together veröffentlicht.

Seit den 1980er Jahren und der Finanzialisierung der Wirtschaft haben uns die Akteure der Finanzwirtschaft gelehrt, dass sich hinter jeder Gesetzeslücke eine kurzfristige Gewinnmöglichkeit verbirgt. All das und mehr diskutieren wir mit unseren Investigativ-Journalisten Stefano Valentino und Giorgio Michalopoulos. Sie haben für Voxeurop die dunklen Seiten der grünen Finanzwelt aufgedeckt und wurden für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet.

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