Die Invasion durch Russland im Jahr 2022 löste den größten Exodus in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Zwei Jahre später sind nach Schätzungen des UNHCR noch immer 10 Millionen Ukrainer*innen auf der Flucht; 6 Millionen von ihnen leben als Geflüchtete in Europa. Die lange ruhende Richtlinie über den vorübergehenden Schutz, die zum ersten Mal aktiviert wurde, gewährte ukrainischen Geflüchteten schnellen Zugang zu Aufenthaltsgenehmigungen, Arbeitsmärkten, Wohnraum und sozialen Sicherheitsnetzen – unter Umgehung der typischerweise umständlichen Asylverfahren der EU.
Leider hat sich diese Regelung laut Vsquare als ein durchlässiger Schutzschild gegen raffgierige Unternehmen erwiesen. Auf der Grundlage der Ergebnisse der europaweiten Untersuchung „War & Labor“ zeigen Kristina Veinbender, Mariya Merkusheva, Miglė Krancevičiūtė und Olivia Samnick, wie einige Unternehmen die Verzweiflung der ukrainischen Geflüchteten geschickt ausnutzen und die humanitäre Krise in eine kommerzielle Chance verwandeln. Das Leid der ukrainischen Geflüchteten auf den europäischen Arbeitsmärkten umfasst ein breites Spektrum: von vorenthaltenen Löhnen und unrechtmäßig niedrigen Gehältern bis hin zu erbärmlichen Lebensbedingungen, psychischer Misshandlung und eklatanter Missachtung des Wohls der Arbeitnehmenden und des Arbeitsrechts. Der Krieg hat eine Armutsindustrie hervorgebracht. Unternehmen beuten die Ukrainer auf dreifache Weise aus: durch erpresserische Mieten, Geflüchtetensubventionen und Ausbeutung von Leiharbeit.
Die Verteilung der ukrainischen Geflüchteten in Europa hat sich deutlich verschoben. Deutschland beherbergt jetzt mit 1,2 Millionen die größte Zahl, während es in Polen nur noch 950.000 sind. Diese Verlagerung nach Westen, vor allem nach Deutschland, wird durch bessere wirtschaftliche Aussichten und soziale Vorteile motiviert. Das zeigt, wie finanzielle Faktoren die Siedlungsmuster von Geflüchteten innerhalb der EU beeinflussen.
Olivia Samnick schreibt in Der Freitag, dass 80 % der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland eine Beschäftigung suchen, doch nur 21 % bis Ende 2023 einen Arbeitsplatz haben. Viele Hochqualifizierte weichen angesichts langwieriger Anerkennungsverfahren in den Niedriglohnsektor aus, wo die Gefahr der Ausbeutung akut ist. Arbeitsinspektionen sind völlig unzureichend und finden im Durchschnitt einmal alle 25 Jahre pro Unternehmen statt, was auf eine mangelhafte Personalausstattung und schlechte Koordinierung zwischen den Abteilungen zurückzuführen ist. Trotz solider Arbeitsgesetze berichtet der Deutsche Gewerkschaftsbund über weit verbreitete Verstöße. Im Hotel- und Gaststättengewerbe beispielsweise führt die Bezahlung nach Zimmern statt nach Stundenlöhnen häufig zu einer großen Zahl unbezahlter Überstunden. Dieses Muster individueller Verstöße hat sich zu einem systemischen Problem ausgewachsen, bei dem skrupellose Arbeitgebende von minderwertigen Arbeitspraktiken profitieren, während viele Arbeitnehmende dies stillschweigend ertragen oder stillschweigend kündigen.
Während Deutschland in absoluten Zahlen die meisten ukrainischen Geflüchteten aufnimmt, liegt die Tschechische Republik mit rund einer halben Million ukrainischer Geflüchteter pro Kopf an der Spitze. Eine Studie der Karlsuniversität, über die Zita Senková und Dušan Drbohlav im Tschechischen Rundfunk berichten, zeigt, dass ukrainische Geflüchtete, vor allem Frauen, erfolgreich auf dem tschechischen Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben. Trotz ihrer oft hohen Qualifikationen und Erfahrungen sind sie jedoch weitgehend auf niedrige Positionen auf dem sekundären Arbeitsmarkt beschränkt. Diese Schieflage hat zu wachsender Unzufriedenheit geführt, mit Beschwerden über unwürdige Behandlung, niedrige Löhne und Ausbeutung. Die Situation treibt die Geflüchteten manchmal in die Schwarzarbeit oder zu ausbeuterischen Arbeitsvermittelnden. Sprachbarrieren und Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Abschlüssen verschärfen das Problem noch. Zwar verbessern sich die Sprachkenntnisse der Geflüchteten, doch Zeitmangel aufgrund der Notwendigkeit, Geld zu verdienen und sich um die Familie zu kümmern, behindert die weitere Ausbildung und stellt ein hartnäckiges Hindernis für bessere Beschäftigungsaussichten dar.
In der Prager Tageszeitung Lidové noviny hebt Lenka Štěpánková einen noch besorgniserregenderen Trend bei der jüngeren Generation ukrainischer Geflüchteter hervor: Etwa drei Viertel der jugendlichen Geflüchteten gehen nicht zur Schule. Experten warnen vor diesem Trend, da er die Kriminalität anheizen, die sozialen Dienste belasten und potenzielle Beiträge zum Arbeitsmarkt vergeuden könnte. Diese Bildungslücke ist auf ein komplexes Zusammenspiel von Faktoren zurückzuführen – Zurückhaltung, Kapazitätsengpässe in weiterführenden Schulen, Sprachbarrieren und unzureichende Sozialleistungen zur Deckung der Lebenshaltungskosten während des Studiums. Wie sie in einem weiteren Artikel feststellt, sind ukrainische Geflüchtete paradoxerweise Nettozahler für die tschechische Staatskasse, da ihr steuerlicher Beitrag größer ist als die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel.
In Ungarn befinden sich ukrainische Geflüchtete, auch solche mit ungarischer Staatsbürgerschaft – vor allem transkarpatische Roma – laut dem Nachrichtenportal Mérce in einer ähnlich prekären Lage. Ein erheblicher Teil der ukrainischen Geflüchteten geht unabhängig von ihrer Qualifikation einer nicht angemeldeten Arbeit nach. Frauen arbeiten in der Regel als Reinigungskräfte, Männer als Bauarbeiter. Diese Situation belastet vor allem Geflüchtete mit geringerem Status, wobei die Roma eine besonders gefährdete Gruppe darstellen. Für hochgebildete Flüchtlinge aus der Mittelschicht ist die Lage anders, aber ebenso besorgniserregend: Trotz fortgeschrittener Abschlüsse oder Qualifikationen zwingen Sprachbarrieren viele zu manueller Arbeit, die nichts mit ihren Fachkenntnissen zu tun hat.
Geflüchtete, insbesondere Frauen, sind mit schweren Formen der Ausbeutung außerhalb des Arbeitsmarktes konfrontiert. Rocío Crespo berichtet in La Razón, dass die spanische Polizei in Zusammenarbeit mit Europol ein Menschenhandelsnetz ausgehoben hat, das Frauen mit falschen Versprechungen von Arbeit als Flugbegleiterin lockte, um sie dann in den Clubs im Süden Spaniens zur Prostitution zu zwingen.
Im Schweizer Nachrichtenportal Watson weist Chantal Stäubli darauf hin, dass ukrainische Geflüchtete zwar dank eines klareren Schutzstatus und sichereren Fluchtwegen im Allgemeinen bessere Bedingungen genießen als diejenigen, die über das Mittelmeer oder die Balkanroute ankommen, aber dennoch nicht vor Ausbeutung gefeit sind. In Deutschland und der Schweiz sind Fälle bekannt geworden, in denen Männer ukrainischen Frauen gegen Sex eine Unterkunft angeboten haben. Das macht die anhaltende Verletzlichkeit selbst relativ privilegierter Geflüchtetengruppen deutlich.
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Ungarns Visabestimmungen alarmieren die EU
Ádám Kolozs | 444 | 30 Juli | HU
Ungarns Lockerung der Visabestimmungen für Russinnen und Russen hat in Brüssel Besorgnis ausgelöst. Manfred Weber, Vorsitzender der Europäischen Volkspartei, warnt, sie könne der russischen Spionage in der EU Tür und Tor öffnen. In einem Brief an den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, fordert Weber, auf dem nächsten EU-Gipfel dringende Maßnahmen zu ergreifen. Mit der neuen Politik, die im Juli in Kraft trat, wurde die ungarische Arbeitsgenehmigung National Card auf Staatsangehörige Russlands, von Belarus und ausgewählten Balkanstaaten ausgeweitet. Das gestraffte Verfahren, bei dem auf bestimmte Bescheinigungen über den Bedarf an Arbeitskräften verzichtet wird, hat Sicherheitsbedenken hervorgerufen. Kritiker warnen vor einer möglichen unkontrollierten Einreise russischer Staatsbürger*innen in den Schengen-Raum und vergleichen die Risiken mit denen in der Vergangenheit sanktionierter Unternehmen in russischem Besitz. Während sich Ungarn auf den Bedarf an Arbeitskräften für sein Atomprojekt Paks 2 beruft, stellt Weber die Notwendigkeit dieses neuen Systems in Frage und argumentiert, dass es Spionage erleichtern könnte. Weber fordert die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU auf, strenge Maßnahmen zu ergreifen, um die Integrität des Schengen-Raums zu schützen und ähnliche einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu verhindern. Angesichts der anhaltenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen droht durch Ungarns Ansatz in der Visapolitik ein neuer Riss in der Sicherheitsstrategie der EU.
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