Presseschau Open Europe

Migration: Europa weiter auf Irrfahrt

Dürfen die Länder Europas mit den Taliban verhandeln, europäisches Recht durch ihr eigenes ersetzen oder mit scharfer Munition auf Menschen schießen, die ihre Grenzen überqueren? In ihrer großen Verwirrung ergreifen die europäischen Regierungen immer mehr ungewöhnliche Maßnahmen.

Veröffentlicht am 18 September 2024

In diesem Sommer wartete ich ungeduldig auf den Urlaub. Die Monate vor der Sommerpause waren für diejenigen, die sich für Migration und Politik im Allgemeinen interessieren, zugegebenermaßen alles andere als erholsam. Nach der Europawahl und dem „begrenzten“ Erfolg der extremen Rechten, den „Achterbahnfahrten“ der französischen Parlamentswahl und rassistischen Ausschreitungen im Vereinigten Königreich erwartete ich ungeduldig – und wie sich herausstellte voller Naivität – eine Rückkehr zur Langeweile.

Leider scheint die aktuelle Migrationslage darauf hinzudeuten, dass es nun unmöglich ist, zur Normalität zurückzukehren. Wir wollen uns daher einen kurzen Überblick über die wichtigsten Ereignisse des Frühherbstes verschaffen.

Deutschland verstrickt sich in der Migrationsfrage

In Deutschland ließen der Anschlag in Solingen – bei dem drei Menschen getötet und mehrere verletzt wurden – und zuletzt das historische Ergebnis der rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland (AfD) bei den Landtagswahlen in Thüringen (32,8 %, 32 von 88 Sitzen) die Bundesregierung endgültig in einen Rausch von Anti-Migrationsmaßnahmen verfallen.

Die deutsche Exekutive hatte bereits für Kontroversen gesorgt, als sie 28 gerichtlich verurteilte afghanische Staatsangehörige nach Afghanistan abschob, nachdem sie zwei Monate lang über Katar mit der Taliban-Regierung verhandelt hatte.

Heute will Deutschland vorübergehend die Kontrolle seiner Landgrenzen ausweiten. Diese Entscheidung, so schreibt Christian Jakob für Die Tageszeitung, berücksichtigt die tatsächliche Situation an den deutschen Grenzen nicht: „Rechte und Konservative behaupten mit Vorliebe, es gebe „Chaos“ und „Kontrollverlust“, man wisse nicht, wer kommt, Terroristen und Schwerkriminelle könnten einfach hereinspazieren.“ Er meint: „Wer die stets gleichen offiziellen Begründungen hört, warum nun innerhalb der EU wieder kontrolliert werden soll, muss denken, dass es vorher eben genauso war, wie die Rechtsextremen behaupten: ein Zustand von Kontrollverlust und Rechtlosigkeit“. Jakob zufolge besteht die Gefahr, dass derartige Maßnahmen durch einen Dominoeffekt zu einer Verschärfung der Situation an den europäischen Außengrenzen führen.

Frankreich: Der neue Ministerpräsident, ein „Hardliner in Sachen Immigration“

In Frankreich hat der Präsident der Republik Emmanuel Macron (Renaissance, Mitte-Rechts) einen Skandal heraufbeschworen (oder Frankreich gerettet, je nachdem, wen man fragt), als er Michel Barnier, ehemaliger Abgeordneter, Minister und Verhandlungsführer des Brexit, zum Ministerpräsidenten ernannte. Er beendete damit eine politische Krise, die aus den letzten Parlamentswahlen entstanden war, indem er sich nicht für die von der technisch mehrheitsfähigen Linken (193 Sitze von 577) vorgeschlagene Kandidatin, sondern für einen – zumindest für die Rechte – „konsensfähigen“ Politiker entschied.

Aber obwohl Michel Barnier sehr konsensorientiert ist, bleibt er ein „Hardliner in Sachen Immigration“, präzisiert Matthieu Aron für Le Nouvel Obs: „Bei der Vorwahl, die innerhalb seiner Partei Les Républicains organisiert wurde, um ihre zukünftige Kandidatin oder ihren zukünftigen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 2022 zu bestimmen, [....] hatte Michel Barnier mit seinem ‚Moratorium über die Einwanderung‘ alle verblüfft. Er plädierte damals dafür, ‚den Entgleisungen, dem Laissez-faire‘ einen Riegel vorzuschieben. Eine ‚Pause von drei bis fünf Jahren‘, um bedingungslose Regularisierungen, Familienzusammenführungen und Visa für lange Aufenthalte zu bremsen. Und er schlug vor, ein Referendum abzuhalten, damit Frankreich ‚Quoten für Immigrierende‘ festlegen und ‚seine Handlungsfreiheit‘ gegenüber Europa wiedererlangen könne.“

Orbans Eskapade und die Antwort Brüssels

Zwischen Belgien und der EU auf der einen und Ungarn auf der anderen Seite fliegen wieder die Fetzen: Seit Wochen droht Ungarn damit, ganze Busse mit Migrierenden direkt nach Brüssel zu schicken. Ursprung des Streits war eine Mahnung des EU-Gerichtshofs, der von Ungarn nicht weniger als 200 Millionen Euro Strafe wegen Nichteinhaltung des europäischen Asylrechts fordert, wie Sára Anna Puplifür das ungarische Medium Telex erklärt.


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Eine gesalzene Strafe, findet Budapest und droht damit, den Brüsseler Eliten jene Geflüchteten zu schicken, die sie „nach Europa einladen“ – zumindest, wenn man Balázs Orbán, politischer Direktor von Viktor Orbán, glauben darf. Seine Aussage wurde in Index, einem ehemals unabhängigen Medium, das inzwischen von einem regierungsnahen Unternehmen aufgekauft wurde, abgedruckt

In Belgien hat der ungarische Plan auf jeden Fall eine erbauliche politische Sequenz ausgelöst, mit Auseinandersetzungen zwischen belgischen Politikerinnen und Politikern, Aufrufen, die Busse an der Grenze zu blockieren, und Kritik an der „wohlmeinenden Linken“, die sich der „realen Auswirkungen ihrer Politik“ nicht bewusst sei, berichtet Ugo Santkin in Le Soir.

Doch dieser Streit zeigt die europaweite Verallgemeinerung der Methoden, die einzelne Regierungen im Umgang mit Migrierenden und Migration anwenden. „Demontage Europas, Gefährdung der Union? Ja. Aber in der Praxis experimentieren viele der empörten EU-Länder mutatis mutandis mit eigenen Versionen dieser Ablehnung“, lanciertBéatrice Delvaux, Chefredakteurin von Le Soir, als Reaktion auf den Einstellungswandel von Olaf Scholz gegenüber Asylsuchenden. „Ungarn mit seinen Bussen, die kommen werden, um unerwünschte Migrierende in Brüssel abzuladen“, das ist eine Form der Ablehnung. Aber auch „Belgien, in einer zugegebenermaßen sanfteren Version, mit den Unterhändlerinnen und Unterhändlern [der zukünftigen Regierungskoalition], die sich auf eine Kürzung des Asylbudgets um eine halbe Milliarde einigen“, zählt sie auf. Und wirft nicht ohne Verbitterung ein: „Die Dringlichkeit der Wahlen und die Angst vor den Extremen lassen die Regierenden wie kopflose Hühner herumlaufen, und das müssen letztendlich die Migrierenden ausbaden.“

Not macht erfinderisch

Kaum ein Land verkörpert die politische Aufregung um die Migration besser als Polen. Zwar wurde die derzeitige Regierung wegen ihres Versprechens gewählt, die Demokratie nach fast einem Jahrzehnt der Herrschaft der rechtsextremen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) wiederherzustellen, doch ihr Umgang mit der Migrationsproblematik wirft eine Vielzahl von Fragen auf. Diesen Sommer verabschiedete das polnische Parlament eine Gesetzgebung, die es ermöglicht, unter bestimmten Bedingungen die kriminelle Verantwortung von Beamtinnen und Beamten an der Grenze zu Belarus aus dem Strafgesetzbuch auszuschließen, wenn sie ihre Waffe benutzen. Das kommt einer Erlaubnis gleich, aus „Notwehr“ oder „präventiv“ mit scharfer Munition zu schießen. In Krytyka Polityczna greift Katarzyna Przyborska die wichtigsten Bedenken angesichts dieser Änderung auf: „Wer wird die von Militärangehörigen getroffenen Entscheidungen beurteilen? Die Militärpolizei, die kürzlich von Politikerinnen und Politikern zurechtgewiesen wurde? Offizierinnen und Offiziere anderer Dienste? Oder die Betroffenen selbst? Die Abgeordneten raten dazu, einfach den Soldatinnen und Soldaten, den Offizierinnen und Offizieren zu vertrauen.“

Nach Ansicht der polnischen Journalistin tragen die Äußerungen der Mehrheit zur Verteidigung des Textes dazu bei, einen Zustand allgemeiner Gewalt zu schaffen. „Diese Äußerungen der Abgeordneten gehen derzeit um die Welt, während sich die Faschistinnen und Faschisten des Landes versammeln, um in den Wäldern an der Grenze zu ‚patrouillieren‘ – ermutigt durch die Anti-Migrierenden-Rhetorik und die Maßnahmen einer demokratischen Regierung, die angeblich die Rechtsstaatlichkeit durchsetzt,“ warnte sie. „[Die Regierung] hat den Weg für eine Gewalt geebnet, die nur weiter eskalieren kann.“

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ECF, Display Europe, European Union

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