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Deglobalisierung: Lässt die wachsende Distanz Europa erstrahlen?

Angesichts zunehmender weltweiter Spannungen lässt die Globalisierung nach – das bringt die Gewissheiten der bestehenden Weltordnung in Gefahr. Dieser Wandel bietet jedoch auch Chancen für die europäischen Länder, insbesondere für die Länder Mittel- und Südeuropas.

Veröffentlicht am 7 November 2024

Das Gespenst der Deglobalisierung spukt in der Weltwirtschaft, denn Protektionismus, Handelsschranken und einwanderungsfeindliche Stimmung gewinnen an Boden, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Moisés Naím in einem Kommentar für El País als Reaktion auf die Atmosphäre auf dem Gipfel der Finanzminister*innen und Zentralbankgouverneurinnen und -gouverneure Ende Oktober in Washington.

„Lange hieß es, aus Handelspartnern würden irgendwann Freunde. Heute zeigt sich: Freunde werden eher zu Handelspartnern“, schreibt Aloysius Widmann in der Wiener Tageszeitung Die Presse. Seit Russlands Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 hat sich eine neue Handelsgeographie herausgebildet: die Handelsströme innerhalb der politischen Blöcke nehmen zu, während der Handel zwischen den Blöcken abnimmt. Westliche Unternehmen entscheiden sich zunehmend für teurere Waren von Verbündeten statt für Schnäppchen aus Ländern im Einflussbereich von Peking oder Moskau. Diese große Umstellung der Lieferketten – „Friendshoring“ genannt – könnte sich trotz der damit verbundenen Herausforderungen als Segen für die europäischen Volkswirtschaften erweisen.

Spanien kann von der aktuellen Welle der Deglobalisierung profitieren. Der Trend erhält durch ein Zusammentreffen von Faktoren wie geopolitische Spannungen, die COVID-19-Pandemie, zunehmender Protektionismus, nationalistische Gefühle und technologischer Fortschritt Auftrieb, so Luís Alberto Peralta, Herausgeber der Wirtschaftszeitung Cinco Días. Das Land profitiert bereits von den Verlagerungsbemühungen der Textil- und Bekleidungsindustrie, die von dem Wunsch getrieben werden, die Entfernung zwischen Produktion und Verbrauch zu minimieren, und von der steigenden Nachfrage nach Flexibilität in diesem Sektor. Inditex, die Muttergesellschaft des Modehändlers Zara, produziert inzwischen die Hälfte ihrer Waren in Spanien und in drei Nachbarländern.

Darüber hinaus kündigte der Halbleiterriese Broadcom im vergangenen Jahr an, rund 920 Mio. EUR in eine neue Halbleiterfabrik in Spanien zu investieren, im Einklang mit der breiter angelegten Strategie Europas zur Erlangung von Autonomie in dieser wichtigen Branche.

Bezeichnend für die sich verändernde globale Dynamik ist, dass Portugal – kaum als traditioneller Industriestaat bekannt – laut Savills' Nearshoring Index 2024 zum weltweit attraktivsten Ziel für neue Investitionen im verarbeitenden Gewerbe geworden ist. Die Portugal News berichtet, dass die Attraktivität des iberischen Landes nicht im industriellen Erbe, sondern in moderner Ausstattung liegt: Energieunabhängigkeit aufgrund erneuerbarer Energien, politische Stabilität, qualifizierte Arbeitskräfte, solide Umweltstandards und eine strategische Lage zwischen Europa und Amerika.

Auch Italien sieht in dem sich verändernden globalen Handelsumfeld eine Chance. Die strategische Lage der stiefelförmigen Halbinsel im Mittelmeer erweist sich an zwei Fronten als entscheidend, schreibt Carlotta Scozzari in La Repubblica. Das Land bedient sowohl die traditionellen Containerrouten zwischen Asien und Europa – wo der chinesische Einfluss nach wie vor stark ist, wie Pekings Beteiligung an Häfen wie Savona beweist – als auch die neu entstehenden kürzeren Lieferketten. Die rechtsextreme Ministerpräsidentin Giorgia Meloni versucht, diesen geografischen Vorteil durch ihre Mittelmeerstrategie zu nutzen, wobei sie vor allem das aufkeimende wirtschaftliche Gewicht Afrikas im Auge hat. Die Frage ist, ob Italien seine günstige Lage in einen dauerhaften Handelsvorteil verwandeln kann.

Während der Glanz der Globalisierung verblasst, wittert Mitteleuropa eine Chance. In der Tageszeitung Hospodářské noviny merkt der Wirtschaftswissenschaftler Jaroslav Vybíral an, dass westeuropäische Unternehmen angesichts der frostigen Beziehungen zwischen den USA und China und der Tatsache, dass Zölle zum vorherrschenden Thema werden, ihre Lieferketten neu überdenken. Die Lehren aus der Pandemie in Bezug auf die medizinische Versorgung haben zu einer breiteren Neubewertung der Produktionsstandorte geführt. Investoren wägen nun neben den traditionellen Kriterien wie Arbeits- und Energiekosten auch die Stabilität der Rechtsvorschriften, die Infrastruktur und die politische Ausrichtung ab. Ungarn veranschaulicht dieses neue Kalkül: Während seine politische Haltung chinesische Investitionen – vom Elektroauto-Hersteller BYD bis hin zum Batterieanbieter NIO – anzieht, scheiterte der ungarische Versuch, das spanische Unternehmen Talgo zu übernehmen, weil das im derzeitigen geopolitischen Klima als zu riskant gilt.

„Wir sind das China von Europa. Werden wir bald auch Taiwan sein?“ fragt Zbigniew Bartuś auf Forsal.pl. Die Frage steht für Polens industrielle Metamorphose. Das Land, das einst wegen seiner Fähigkeiten zur Herstellung von Artikeln aller Art, von Geschirrspülern bis hin zu Autoteilen, als Werkstatt Europas bezeichnet wurde, strebt nun eine ehrgeizigere Rolle an: Es will das Halbleiterzentrum des Kontinents werden. Da globale Unternehmen inmitten geopolitischer Spannungen ihre Lieferketten überdenken, befindet sich Polen im Schnittpunkt zweier Trends: Glokalisierung – die Anpassung globaler Produkte an lokale Märkte – und Nearshoring, die Verlagerung der Produktion näher an die Heimatmärkte.

Ein dramatischer Anstieg des Interesses an einer Rückverlagerung nach Europa – 67 % der potenziellen Investoren erwägen jetzt einen solchen Schritt, gegenüber 27 % im Jahr 2020 – hat dazu geführt, dass Polen nach den Heimatmärkten der Unternehmen als bevorzugter Standort gilt. Das 4,6 Milliarden Dollar teure Halbleiterwerk von Intel in der Nähe von Wrocław signalisiert diese Verlagerung von der Grundstoffherstellung zur Hightech-Produktion. Doch Polens Wandel hat mit hemmenden Einflüssen zu kämpfen: Lohndruck, bürokratische Hürden und eine schleppende Umstellung auf umweltfreundliche Technologien stehen den Ambitionen des Landes im Weg. Besonders bezeichnend ist, dass 60 % der lokalen Unternehmen in einem zunehmend nachhaltigkeitsbewussten Markt in Bezug auf ESG immer noch Nachzügler sind.

„Die Phase der Globalisierung, die in erster Linie auf China ausgerichtet war, neigt sich ihrem Ende zu“, schreibt Alexander Börsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er argumentiert, dass diese Entwicklung – neben bis vor kurzem bedeutungslosen Neologismen, wie Deglobalisierung, Friendshoring, Entkopplung und Deregulierung – durch die Diversifizierung der Lieferketten eine große Chance bietet. Sie leitet möglicherweise eine neue und komplexere Phase der Globalisierung ein, die neue Märkte und Länder einbezieht. Es wird zwar behauptet, dass die Deglobalisierung die Unternehmen in die Heimat treibt, aber diese schlagen einen anderen Kurs ein. Für Exportländer wie Deutschland ist der Rückzug keine Option. Stattdessen setzen deutsche Unternehmen auf neue Märkte und Regionen und läuten damit möglicherweise eine vielfältigere Phase des globalen Handels ein.

In der gleichen Tageszeitung versetzen Karl Haeusgen und Jeff Rathke der Begeisterung für „Friendshoring“ – die Neuausrichtung von Lieferketten auf politische und wirtschaftliche Verbündete – einen Dämpfer. Angesichts der Tatsache, dass nur zwei Drittel des weltweiten BIP auf Demokratien entfallen, wäre eine solche diskriminierende Handelspolitik ein Rezept zur Selbstverarmung. Die Autoren plädieren für einen nuancierteren Ansatz: Beschränkung des Handels nur in den sensibelsten Sektoren und mit echten Schurkenstaaten, während die Märkte in anderen Bereichen offen bleiben. Das Ziel sollte darin bestehen, die wirtschaftliche Sicherheit durch strategische Partnerschaften zu erhöhen, anstatt darin, nicht-demokratische Handelspartner komplett abzulehnen.

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