Ein neuer Eiserner Vorhang der Inflation teilt Europa

In Mittel- und Osteuropa erforscht die Presse die Ursachen einer historischen Inflationswelle; Russland hat Estlands Premierministerin Kallas mit einem Haftbefehl ins Visier genommen, und Portugal strebt den Spitzenplatz in der europäischen Produktion erneuerbarer Energien an.

Veröffentlicht am 29 Februar 2024 um 09:08

Der Inflationssturm, der drei Jahre lang für Turbulenzen sorgte, scheint sich zu legen, und die Periode historischer Höchststände in verschiedenen Ländern beruhigt sich offensichtlich.

Von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union war Ungarn am stärksten von der Inflation betroffen, die Europa heimgesucht hat. Mitte des vergangenen Jahres musste das Land eine Inflationsrate von fast 20 % verkraften, ein unbändiger Anstieg, mit dem es den EU-Durchschnitt um das Dreifache und die anderen EU-Länder mit hoher Inflation – Polen, die Tschechische Republik und die Slowakei – um fast das Zweifache übertraf, wie aus der Liste von Eurostat hervorgeht.

Um die galoppierenden Kosten einzudämmen, hat die von der Fidesz geführte Regierung unter Viktor Orbán für das Jahr 2022 eine Reihe von Preisobergrenzen für zahlreiche Produkte von Benzin bis Nudeln eingeführt. Dieser interventionistische Schachzug hat jedoch das Gegenteil des erhofften Ergebnisses gebracht: Er hat in einer der am stärksten vom Handel abhängigen Volkswirtschaften der Welt zu Verknappungen geführt und paradoxerweise genau die Flammen der Inflation angefacht, die es zu bekämpfen galt. Jetzt, da die Inflationsflut munter zurückgeht, beobachtet Gábor Kovács von der Wirtschaftszeitschrift HVG eine starke Ironie: das Nachlassen des Preisdrucks „signalisiert nicht Wohlstand, sondern Not. Dieser Rückgang ist zu einem großen Teil dem Sinken der Energiepreise zu verdanken, das durch eine düstere Rechnung ausgelöst wurde: Die ungarischen Haushalte sparen beim Heizen, was von schwindenden finanziellen Reserven zeugt.“

Dieser finsteren Analyse schließt sich das GKI-Wirtschaftsinstitut an, das von HVG zitiert wird und ein klares Bild malt: „Ungarn ist heute das ärmste Land in der Union. Die Kaufkraft der ungarischen Verbraucher ist geschrumpft. Im Jahr 2023 wurden im Vergleich zu 2022 7,9 % weniger Waren gekauft , obwohl eine durchschnittliche Familie im gleichen Zeitraum 327.000 Forint (etwa 840 Euro) mehr ausgegeben hat. Die ungarische Konsumtätigkeit scheint den niedrigsten Wert in der EU erreicht zu haben, und selbst Bulgarien, das in der Vergangenheit hinterherhinkte, wird Ungarn nun übertreffen.“

Die baltischen Tigerstaaten sind nicht immun gegen den Inflationsstrudel. Die lettische Wirtschaft wird mit Raten von über 20 % besonders hart getroffen. Wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, prägt der wirtschaftliche Wohlstand – oder das Fehlen desselben – die Auswirkungen der Inflation. In Lettland, einer relativ ärmeren Gesellschaft, gibt der durchschnittliche Haushalt 23,3 % seines Einkommens für Lebensmittel, 14,6 % für Wohnkosten und weitere 14,6 % für Verkehrsmittel aus.

Die Tageszeitung Diena berichtet, dass die Inflation im gesamten Baltikum eine Gefahr bleibt. Daran ändert auch der bemerkenswerte Rückgang in Lettland in den letzten sechs Monaten nichts, dem zu verdanken ist, dass die Konsumpreise am Jahresende nur 0,6 % höher waren als im Dezember 2022. Dennoch liegen die Preise hartnäckig 30-50 % über den Zahlen von vor drei Jahren. Zu Beginn des Jahres 2024 sorgen sich die Bewohner*innen des Baltikums vor allem um die Lebensmittelkosten, aber in Lettland ist das Schreckgespenst steigender Gesundheits- und Arzneimittelpreise bedeutender als in den Nachbarländern.


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Auf den Seiten der Tschechischen Wirtschaftszeitung Hospodářské noviny schreiben die Ökonomen Tomáš Adam und Jiří Schwarz, dass die hohe Inflation in Mittel- und Osteuropa historisch bedingt ist und dass sie diese Länder unabhängig von der im Umlauf befindlichen Währung geplagt hat. „Ein Vorhang hat sich über Europa gesenkt. Er teilt den Kontinent in zwei Blöcke, und zwar diesmal nicht nach Ideologie, sondern nach Inflation: In den letzten zwei Jahren verzeichneten die Länder im Osten ein höheres Preiswachstum, während die Länder im Westen eine niedrigere Inflation aufwiesen“, schreiben die Autoren und erklären, dass die Grenze durch ähnliche Orte verläuft wie die, die Churchill in seiner berühmten Rede vor fast 80 Jahren genannt hat.

Der ehemalige Eiserne Vorhang kündigt nun eine Spaltung nach Preissteigerungen an, wobei die östlichen Länder mit einer stärkeren Inflation zu kämpfen haben als ihre westlichen Pendants. Die wirtschaftliche Kluft, die der Eiserne Vorhang hinterlassen hat, ist geblieben. Osteuropa wurde einst durch ineffiziente, energieintensive Industrien, die auf billigen sowjetischen Brennstoff angewiesen waren, erstickt. Obwohl der Fall des Vorhangs eine allmähliche Annäherung ausgelöst hat, liegt der Lebensstandard im Osten immer noch hinter dem des Westens zurück. Vor dem jüngsten historischen Energieschock lag das Preisniveau in den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEs) etwa 30 % unter dem EU-Durchschnitt und die Dienstleistungen kosteten etwa 40 % weniger, was die Lohnunterschiede zum Westen widerspiegelt. Folglich geben die einkommensschwächeren Einwohner der MOEs einen größeren Teil ihres Budgets für lebensnotwendige Güter wie Lebensmittel und Energie aus, was die Auswirkungen ihrer steigenden Kosten auf die Gesamtinflation verstärkt. Da sich die Volkswirtschaften der MOEs allmählich an westliche Standards angleichen, wird erwartet, dass die Region aufholen wird. Die höhere Inflation, die in den letzten zwei Jahren in den Ländern mit niedrigerem Einkommen zu beobachten war, wird als eine durch Kostenschocks beschleunigte Konvergenz angesehen – ein Trend, der sich in naher Zukunft mit steigendem Lohndruck fortsetzen dürfte.


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