Ich spreche nicht gerne von einer Migrations-„Krise“. Dieser Ausdruck fällt meiner Meinung nach unter die Hysterisierung der Debatte um Bevölkerungsbewegungen – eine beliebte Taktik der Rechtsextremen – und verhindert jedes gründliche und friedliche Nachdenken über das äußerst wesentliche Thema. In einer Zivilisationskrise wird schließlich nicht diskutiert.
Wir müssen jedoch feststellen, dass wir einen entscheidenden Moment erleben. Nicht so sehr, weil die westliche Zivilisation einer tödlichen Gefahr aus dem Süden gegenübersteht, wie manche behaupten, sondern weil die Zunahme von Konflikten, der Klimawandel und die immer größere Ungleichheit eine neue Migrationspolitik erfordern. Da das Jahr 2024 zu Ende geht, schlage ich einen Blick in die Zukunft vor. Was können wir in Bezug auf Migration von 2025 erwarten?
Mehr Konflikte, mehr Migration
59 staatliche Konflikte in 34 Ländern: Laut einer Studie des Osloer Friedensforschungsinstituts war 2023 eines der am stärksten von Gewalt geprägten Jahre. Krieg in der Ukraine, in Gaza, im Sudan: Je mehr Konflikte es gibt und je festgefahrener sie sind, desto größer ist die Chance, dass weitere Menschen nach Europa auswandern. Und dabei ist noch nicht einmal der Klimawandel berücksichtigt, der weiterhin zu internen wie externen Bevölkerungsbewegungen führen wird.
In The Conversation berichtet Barah Mikaïl über die Migrationsbewegungen aus dem Libanon. Obwohl der Artikel vor der Unterzeichnung des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hisbollah verfasst wurde, bleiben seine Schlussfolgerungen relevant. Für Mikail scheint die Aufnahme von Exilierten aus dem Nahen Osten heute viel schwieriger zu sein als im Jahr 2015, vor allem aufgrund der zunehmenden Bedeutung von immigrationsfeindlichen Diskursen und Parteien.
„Die Frage, ob die EU alle Geflüchteten aus dem Libanon und aus anderen Konfliktzonen im Nahen Osten aufnehmen könnte, ist daher komplex“, fasst er zusammen. „Auch wenn dies auf dem Papier wirtschaftlich machbar wäre – und auf lange Sicht zweifellos vorteilhaft –, scheint eine solche Entscheidung politisch außer Reichweite zu sein. Die Herangehensweise der EU an diese Krise wird durch ihre Einigkeit (oder fehlende Einigkeit) über eine gemeinsame Politik bestimmt werden.“
Die Migrierenden hingegen leiden ganz konkret unter den Konflikten und Versäumnissen bei der Aufnahme. Público macht eine erschütternde Feststellung: „Beunruhigend ist, dass seit 2014 mehr als die Hälfte der im Zusammenhang mit der Migration registrierten Todesfälle in Europa oder auf den Routen zum europäischen Kontinent auftraten“, warnt die Zeitung. 30.000 Migrierende haben in den letzten zehn Jahren im Mittelmeerraum ihr Leben verloren oder sind verschwunden. „In anderen Regionen, wie der Sahara-Wüste, wird die Zahl der Opfer noch höher geschätzt.“
„Die Folgen für die psychische Gesundheit sind ebenfalls alarmierend“. Die spanische Tageszeitung führt aus: „Viele Migrierende leiden an Angstzuständen, Depressionen und posttraumatischem Stress. In Europa werden jedes Jahr mehr als 100.000 Geflüchtete aus administrativen Gründen inhaftiert. In Spanien entwickeln 70 Prozent der in Haftanstalten untergebrachten Migrierenden schwere psychische Gesundheitsprobleme, und zwei von zehn versuchen, sich selbst zu verletzen.“
Wie denken wir über die Migration der Zukunft?
Wie Ursula von der Leyens Begeisterung für die Abschiebung von Migrierenden – über die Eddy Wax hier für Politico berichtet – und die Zunahme der restriktiven Politik innerhalb der Mitgliedstaaten belegen, ist es wahrscheinlich, dass die EU-Migrationspolitik ihren Kurs fortsetzen wird. In einem Artikel, der die Geschichte der Migrationsabkommen zwischen dem Block und seinen Partnern wiedergibt, fasst die italienische Onlinezeitung ll Post die europäische Geisteshaltung wunderbar zusammen:
„In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass diese Abkommen funktioniert haben, wenn man den Standpunkt derjenigen einnimmt, die sie gefördert haben. Die Ankünfte auf dem Seeweg aus der Türkei, aus Libyen und Tunesien beispielsweise haben nicht wieder das Niveau vor den Abkommen, die 2016, 2017 bzw. 2023 geschlossen wurden, erreicht. Die Folgen waren jedoch enorm und gleichzeitig untermediatisiert, nicht zuletzt, weil sie auf banale Weise in Ländern auftreten, in denen die Arbeit von Journalistinnen, Journalisten und Menschenrechtsorganisationen von den lokalen Regierungen behindert wird.“
Wie wäre es, zur Abwechslung einmal die Meinung der Hauptbetroffenen einzuholen? So lautet ein Vorschlag der New Europeans Initiative des Think Tanks Migration Policy Group, die 71 Vertretende von Organisationen und Gruppen, die von Menschen mit Migrationshintergrund geleitet werden, zur europäischen Politik in diesem Bereich befragt hat. Das Ergebnis? Die Vertretenden heben die Integrationspolitik, den Zugang zu Beschäftigung, die Verteidigung des internationalen Schutzes und den Kampf gegen den Menschenhandel hervor – meilenweit entfernt von den Klischees, die Migrierende so darstellen, als seien sie mehr an Sozialhilfe als an der Integration in die Aufnahmegesellschaften interessiert.
Wie können die traditionellen Parteien in einem Kontext, in dem die extreme Rechte Wahlerfolge erzielt, indem sie eine tatsächliche oder vermeintliche Migrationskrise schürt und auf ihr surft, noch ihren Kopf aus der Schlinge ziehen? Auch wenn die Antwort häufig darauf hinausläuft, die extreme Rechte zu kopieren, ist dies kein unabwendbares Schicksal. In einer Studie, die für die Foundation for European Progressive Studies (FEPS) – ein Think Tank, der mit der Familie der progressiven politischen Parteien auf europäischer Ebene verbunden ist – durchgeführt wurde, erwähnen Stine Laurberg Myssen und Asbjørn Sonne Nørgaard einige Möglichkeiten. Die beiden Forschenden analysierten die Meinungen der Wählenden zu Migration und Sozialschutz in Deutschland, Dänemark und Schweden.
„Die Integration von Eingewanderten ist von entscheidender Bedeutung. Es ist nicht nur eine Frage der politischen Kommunikation und der Repräsentation von Zugewanderten, sondern auch eine große politische Herausforderung“, fassen sie zusammen. „Zugewanderte, die Arbeit haben und die Landessprache sprechen, stellen für die meisten Wählenden kein Problem dar, und auch nicht für einen Großteil der Wählenden der [rechtspopulistischen Parteien].“
Für die [sozialdemokratischen Parteien] sind Investitionen in den Sozialschutz und die soziale Gleichheit entscheidend, um den Anliegen der Mittel- und Unterschichten gerecht zu werden. Die Integration von Migrierenden durch den Zugang zu Beschäftigung und Sprache ebenfalls: „Das ist eine große Herausforderung, aber die Angst der Wählenden vor Einwanderung – insbesondere unter den Wählenden [rechtspopulistischer Parteien] – wird wahrscheinlich nicht so bald nachlassen, wenn es den [Sozialdemokratinnen und -demokraten] nicht gelingt, diese Herausforderung zu bewältigen.“
Vielleicht könnte 2025 das Jahr sein, in dem wir über die Ausrichtung unserer Migrationspolitik diskutieren werden. Wir haben uns so sehr auf die angebliche Notwendigkeit konzentriert – „wir müssen die Einwanderung um jeden Preis kontrollieren“ –, dass wir die tatsächlichen wirtschaftlichen, politischen und humanitären Folgen unserer Entscheidungen aus den Augen verloren haben. Eine Krise erlaubt alles; vielleicht ist es das, worüber wir morgen sprechen müssen.
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