Reportage Migration aus Afrika

Trotz der Aussicht auf schlechteste Bedingungen riskieren afrikanische Migranten ihr Leben

Die Risiken (illegaler) Migration sind den afrikanischen Migranten bekannt: Gewalt, Ausbeutung, manchmal sogar der Tod. Doch trotzdem versuchen viele, der Ungerechtigkeit, den mangelnden Möglichkeiten und der Korruption in ihrem Heimatland zu entfliehen.

Veröffentlicht am 17 Januar 2024 um 17:25

Bei einer Trauerfeier im kamerunischen Douala kommen Freunde und Angehörige von Bryan Achou* zusammen, dessen ertrunkener Leichnam im November 2022 im Mittelmeer gefunden und zu seiner Familie zurück transportiert wurde. „Er war ein Kind aus meiner Nachbarschaft! In nicht einmal zwei Wochen haben wir zwei Kinder verloren. Eines im Meer zwischen der Türkei und Griechenland, das andere in Tunesien“, sagt eine Frau fassungslos. Ein anderer Trauergast meint: „Bis 2035 hat dieses Land keine Einwohner mehr.“

Damit bezieht er sich auf den neuen Entwicklungsplan der Regierung, „Cameroon vision 2025-2035“, erstellt von dem neunzigjährigen Autokraten Paul Biya, um die Situation der von Problemen geplagten Nation zu verbessern. Ausgehend von den resignierten Reaktionen der Anwesenden glauben sie nicht, dass der Plan viel bewirken wird. Es gab schon so viele Pläne, seit Biya 1982 an die Macht kam.

Unter den Trauergästen sind Geschäftsleute, Lehrkräfte, Büroangestellte – niemand von ihnen muss Hunger leiden. Sie sind auch nicht direkt betroffen von den bewaffneten Aufständen im Westen des Kameruns. Doch sie verstehen die Gründe der jungen Menschen, wegzugehen, selbst wenn sie dabei ihr Leben riskieren.

Kurze Zeit nach der Beerdigung von Bryan Achou hört die kamerunische ZAM-Reporterin Elizabeth BanyiTabi von ihrer Freundin Eva*, dass sie das Land über die amerikanische Route verlassen will: ein Flug nach Brasilien und dann mit Bussen in Richtung Norden, bis zum Dschungel an der panamaischen Grenze, dem sogenannten „Darien Gap“. Von dort aus heißt es, zu Fuß den dichten Regenwald durchqueren und der Hitze, giftigen Spinnen, Schlangen und kriminellen Gangs ausgesetzt sein. Überlebende der 80 Kilometer langen Route durch den Gap haben sie beschrieben als „von Leichen übersät.“ Eva weiß über all dies Bescheid, denn ein Freund von ihr ist vor Kurzem im Darien Gap umgekommen. „Ich werde es trotzdem versuchen“, sagt sie.

Arbeit am Persischen Golf

Ungefähr zur gleichen Zeit beobachtet ein Menschenrechtsaktivist am Flughafen Entebbe im ugandischen Kampala eine Gruppe junger, verschleierter Frauen im Abflugbereich. Sie sehen aus wie Uganderinnen. Ein Migrationshelfer erklärt, die Frauen seien auf dem Weg nach Saudi-Arabien und in andere Golfstaaten, um dort als Hausangestellte zu arbeiten.

Der Aktivist ist beunruhigt. Schon oft wurde berichtet, dass Haushaltshilfen rekrutiert wurden und danach unter sklavereigleichen Bedingungen lebten, ausgebeutet wurden, körperliche und sexuelle Gewalt erlitten oder gar getötet wurden. Haben die Frauen nichts von all den Horrorstories aus den Golfstaaten mitbekommen, die in den ugandischen Medien waren?

Billboards in downtown Kampala advertising jobs abroad and a better future. Photo: ©Badru Katumba
Plakatwände in der Innenstadt von Kampala (Uganda) werben für „Jobs im Ausland“ und „eine bessere Zukunft“. | Foto: ©Badru Katumba

Emmanuel Mutaizibwa, ZAM-Reporter und Freund des Aktivisten, forscht nach und findet heraus, dass viele Menschen in seinem Land tatsächlich von den Geschichten wissen und trotzdem gehen. Er interviewt Joyce Kyambadde (jetzt 27). Sie wurde misshandelt, geschlagen und vergewaltigt, ging aber trotzdem erneut als Haushaltshilfe an den Golf. „Du denkst, dieses Mal bekommst du wirklich einen Lohn. Hier (in Uganda) gibt es einfach fast keine Hoffnung“, sagt sie.

Dem ugandischen Statistikamt zufolge sind mindestens 41 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 30 Jahren arbeitslos, insgesamt ca. fünf Millionen Menschen. Von den Arbeitenden hingegen verdient ein Großteil nicht einmal genug, um eine bescheidene Miete zu zahlen – in krassem Gegensatz zu der extrem reichen, regierenden Elite um den 79-jährigen Präsidenten Yoweri Museveni.

Ähnliche Erzählungen werden aus Ugandas Nachbarland Kenia laut. „Es ist, als würde man einem Kind sagen, seine Hand nicht ins Feuer zu halten. Es hält sie trotzdem hinein“, sagt Patricia Wanja Kimani, die als Hausangestellte am Golf selbst monatelang misshandelt wurde. Sie schrieb ein Buch über ihre Erfahrungen und arbeitet heute für eine NGO, die kenianische Frauen vor diesem Schicksal bewahren möchte.

Ihre Kollegin Faith Murunga arbeitet bei einer NGO mit einem ähnlichen Ziel und bestätigt, dass sich der jungen Bevölkerung Kenias – die der kenianischen Federation of Employers zufolge zu 67 Prozent arbeitslos ist – kaum Alternativen bieten. Wie in Uganda interessiert sich auch hier die extrem reiche politische Elite nicht für das Los der Mehrheit. „Wir versuchen, in der Regierung etwas zu erreichen (bessere Perspektiven für die Kenianer). Wir tun, was wir können“, so Murunga.


Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Die Informationskampagnen der NGO zeigen nur begrenzt Wirkung. Die Reporterin Ngina Kirori fragt zehn Frauen und Männer in den Straßen von Nairobi, ob sie es erwägen, an den Golf zu gehen, trotz der bekannten Horrorstories. „Ich gehe trotzdem, weil es hier keine Hoffnung gibt“, sagen vier von zehn Personen. Zwei zögern und meinen, sie hätten große Angst, zögen es aber in Erwägung. Nur vier schrecken tatsächlich vor der Gefahr zurück.

Einige Monate nach dem Interview hat auch Patricia Kimani Kenia verlassen (auf legalem Wege), um sich anderswo eine Zukunft aufzubauen.

Japa

In der nigerianischen Hauptstadt Abuja sprach ZAM-Reporter Theophilus Abbah mit Bauarbeitern, Klempnern und Ärzten. Neun von zehn Personen würden gerne „japa“, was in Nigeria so viel bedeutet wie „das Land bei der kleinsten Gelegenheit verlassen.“ Auch hier bemängeln die Menschen die schlechte Regierung, die prekäre Gesundheit, mangelnde Bildung und öffentliche Dienste, eine riesige Schere zwischen Arm und Reich, Korruption, und die Unterdrückung der Medien und der zivilgesellschaftlichen Organisationen. „Das Leid ist unerträglich“, sagt ein Bauarbeiter. Ein Klempner seufzt, er sei einfach nur traurig. „Ich würde liebend gern in Nigeria bleiben, wenn das Land nur funktionieren würde.”

A security officer inspects the document brought in by the visa applicant a the visa office in Muktar El Yakub Plaza Abuja. Photo: ©David Exodus
Ein Sicherheitsbeamter kontrolliert die Papiere eines Visum-Beantragenden in der Ausreisebehörde am Muktar El Yakub Plaza in Abuja (Nigeria). | Foto: ©David Exodus

Die meisten Nigerianer versuchen, mit einem Visum auszureisen, aber viele Menschen „japa“ auf illegalem Wege. Sie machen sich zu Fuß auf den Weg, gen Norden durch den Sahel in der Hoffnung, das Mittelmeer zu erreichen. Doch laut der NGOs, die mit den nigerianischen Migranten arbeiten, schaffen die meisten Menschen es nicht bis an die Küste, sondern werden im Sahel aufgehalten. Sie geraten in ausbeuterische Arbeitsprojekte, illegalen Handel oder kriminelle Vereinigungen, wie Bettelsyndikate, Bordelle, oder in Haft.

Die Risiken sind in Nigeria wohlbekannt, ebenso wie die Gefahren des Arbeitshandels am Persischen Golf in Kenia und Uganda bekannt sind, und Kamerunern bewusst ist, dass sie in der Wüste, im Wasser oder im Dschungel ums Leben kommen könnten. Aber die Menschen gehen weiter fort, sagt Grace Osakue von der NGO Girls Power Initiative, die denjenigen Frauen eine wirtschaftliche Perspektive ermöglicht, die bereits aus Nigeria emigriert sind oder es sonst getan hätten. Sie teilt Abbah mit, dass es nicht gut läuft und „sogar viele Menschen, die die schrecklichen Bedingungen bereits selbst erlebt haben, noch einmal gehen.“ Dies bekräftigt ein EU-Bericht aus dem Jahr 2021, der ergeben hat, dass über 60 Prozent der nigerianischen Migranten, die „gerettet“ werden konnten, „es wahrscheinlich erneut versuchen.“

Mittellose Lehrkräfte

Ganze 95 Prozent der Lehrkräfte, die im November 2022 von der Amalgamated Rural Teachers’ Union of Zimbabwe befragt wurden, würden weggehen, wenn sie die Chance dazu hätten. Im Gespräch mit Reporter Brezh Malaba sagt der Präsident der Vereinigung Obert Masaraure, der Grund dafür sei das geringe Einkommen, das nicht zur Versorgung einer Familie reiche, „nicht einmal für Essen und Schulgeld.“ Von einem Kollegen, der nach Saudi-Arabien gegangen ist, sagt Masaraure, er habe „großes Glück.“

Dabei ist Simbabwe kein armes Land. Es verfügt über immense Rohstoffvorkommen: Gold und Diamanten, aber auch Lithium und andere weltweit stark nachgefragte Minerale. Die Gewinne fließen jedoch nicht in die Staatskasse. Viele Berichte und Dokumentarfilme wie Al Jazeera’s Gold Mafia offenbarten, dass die Einnahmen in der Regel die Taschen prominenter Personen füllen, die der regierenden Partei ZANU PF angehören.

„Die herrschenden Eliten berauben das Land jeglichen Reichtums“, sagt Masaraure wütend. „Sie begünstigen sogar noch die Ausbeutung unserer natürlichen Vorkommen durch ausländische, multinationale Konzerne. Lehrkräfte und andere Facharbeiter zahlen hohe Steuern, während die Minister Gehälter von rund 500.000 US$ erhalten. Wir finanzieren ihre Privatjets und ihren (anderen) Luxus.“

Als ZANU PF in den letzten, weithin als manipuliert angesehenen, Wahlen erneut gewinnt, quillt das simbabwische Twitter über von Nachrichten an das Nachbarland Südafrika, dessen Präsident Cyril Ramaphosa seinem Amtskollegen Emerson Mnangagwa zum Sieg gratulierte. „Ich gratuliere Ihnen auch – zu der Anzahl an Simbabwern, die bald illegal in Ihr Land kommen”, lautete ein Kommentar.

Es wird geschätzt, dass von den drei bis fünf Millionen im Ausland lebenden Simbabwern  (bei insgesamt 16 Millionen Staatsbürgern) circa ein bis zwei Millionen in den letzten Jahrzehnten nach Südafrika ausgewandert sind. Südafrikanische populistische Politiker machten sie zum Sündenbock, starteten Hasskampagnen und stellten die simbabwischen Menschen als kriminell dar. Die Twitternutzer in Simbabwe sind sich dessen bewusst, was sich in dem Unmut ihrer Nachrichten spiegelt. „Wir kommen trotzdem“, sagen sie. „Wenn du die Chance hast, zu gehen, nutze sie“, ist der traurige Aufruf von NewsHawks auf Twitter als Reaktion auf die Wahlergebnisse. „Das Leben ist zu kurz.“

Um jeden Preis

In keinem der fünf untersuchten Länder hat das Team jemanden getroffen, der glaubte, die Emigration aus den zerrütteten afrikanischen Ländern könne gestoppt werden. In den Worten des kamerunischen Oppositionsaktivisten Kah Walla: „Niemand verlässt seine Heimat, wenn er dort ruhig leben kann. Wenn ich glaube, ich muss mein Land verlassen, um zu überleben, versuche ich das mit allen Mitteln.“ Der ZAM-Reporterin Elizabeth BanyiTabi wurde von einem Mann, der neben ihr im Flugzeug nach Amsterdam saß, geraten, „nicht zurück zu kommen.“

Die meisten der Interviewenden, wie die ZAM-Reporter, sind bestürzt über den Zustand ihrer Geburtsländer. Doch während sie sich weiter ihrem Beruf widmen und hoffen, durch Journalismus etwas zu bewegen, fühlten viele der befragten Einwohner sich machtlos, etwas zu verändern, oder „ihr eigenes Land wieder aufzubauen“, wie Migrationsgegner im Westen es oft verlangen. „Ja, unser Land muss sich entwickeln, es braucht Exzellenz“, sagt Dr. Ejike Oji, ein nigerianischer Experte aus dem Gesundheitswesen. „Deswegen ist es traurig, wenn unsere klügsten Köpfe das Land verlassen. Doch (im nigerianischen System) wird man übersehen, selbst wenn man der Beste ist. Exzellenz wird hier nicht belohnt.“

*Namen mit Asterisk wurden geändert
Diese Untersuchung wurde koordiniert und lektoriert von Evelyn Groenink, Redakteurin für Investigatives bei ZAM.
👉 Originalartikel im ZAM Magazin

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema