Nachrichten Besetzung der Ukraine
Iryna Horobtsova. | Foto: Horobtsow-Familienarchiv Iryna Horobtsova

Iryna Horobzowa, seit über zwei Jahren eine Geisel des Kreml

Am 13. Mai 2022 nahmen russische Soldaten sie aus ihrer Wohnung mit. Seitdem ist die 37-jährige Ukrainerin im Gefängnis. Dieser Artikel ist eine Wiederveröffentlichung in Zusammenarbeit mit The Reckoning Project im Rahmen dessen Journalisten und Juristen Kriegsverbrechen dokumentieren.

Veröffentlicht am 19 März 2025
Iryna Horobtsova Iryna Horobtsova. | Foto: Horobtsow-Familienarchiv

„Es geschah genau hier, in dieser Wohnung. Schauen Sie, das ist unsere Aussicht – man kann Tschornobajiwka und die Umgehungsstraße sehen”, sagt Tetiana Horobzowa und zeigt dabei aus dem Fenster. „Sie beschuldigten meine Tochter, russische Militärfahrzeuge gezählt und diese Informationen an unser Militär weitergegeben zu haben.”

Seit Beginn der Besetzung von Cherson - die russische Armee erreichte die Stadt am 1. März und besetzte sie vollständig am 3. März 2022 - nahm Familie Horobzow an Anti-Russland-Protesten teil. Noch häufiger fuhren Iryna und ihre Mutter durch Cherson und in die umliegenden Dörfer, um dort ehrenamtlich zu helfen. Nachdem der öffentliche Verkehr fast umgehend eingestellt wurde, begannen die Frauen, Medikamente an Krankenhäuser und schwerkranke Patienten und Patientinnen zu liefern.

„Wir haben auch Ärzte und Ärztinnen von ihrem Zuhause ins Krankenhaus und zurück gebracht, wie ein Taxi-Unternehmen”, erinnert sich Tetiana.


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Während der Besatzung war Iryna auch in sozialen Netzwerken aktiv und setzte sich für die Evakuierung der Asow-Kämpfer aus Mariupol ein. Ihre Wohnung bezeichnete sie als „Hauptquartier des Widerstands”.

„Mama, sie sind meinetwegen hier”

Der 13. Mai 2022 hätte eigentlich ein feierlicher Tag für die Familie sein sollen – es war Irynas 37. Geburtstag. Ein Kuchen stand auf dem Tisch. Doch plötzlich bemerkte ihre Mutter einen Kleinbus und mehrere Autos, die in den Innenhof fuhren. Bewaffnete Männer mit Sturmhauben stiegen aus den Fahrzeugen.

„Ich war gerade auf dem Weg nach Hause und fragte sie: ‘Was ist hier los?’”, erinnert sich Irynas Vater Wolodymyr. „‘Dokumentenüberprüfung’”, antworteten sie.

Iryna hatte die Fahrzeuge ebenfalls vom Fenster aus gesehen und begriff sofort. „Mama, die sind meinetwegen hier.”

Mehrere russische Soldaten stürmten die Wohnung der Familie und durchsuchten sie. Sie fanden eine ukrainische Flagge. Die Männer sagten nicht, wer sie sind und stellten keine Fragen. Sie befahlen Iryna lediglich, ihre Dokumente, Telefone und ihren Laptop einzustecken und nahmen sie mit.

Tetiana fragte einen der Soldaten, wo sie ihre Tochter finden könne. Er antwortete: „Im Büro des Militärkommandanten.” Diese Büros wurden von den Besatzern in eroberten ukrainischen Gebieten eingerichtet, um mit der Zivilbevölkerung zu interagieren und öffentliche Angelegenheiten zu kontrollieren.

In den folgenden Wochen suchte das Ehepaar ihre Tochter in der Besatzungsbehörde von Cherson. Doch erst Wochen nach ihrer illegalen Festnahme erfuhr die Familie zufällig, dass Iryna wahrscheinlich aus der Region an einen unbekannten Ort gebracht worden war.

Irynas Eltern suchten weiter. Tagsüber gingen sie zu den Besatzungsbehörden, nachts schrieben und verschickten sie zahllose E-Mails.

Volodymyr Horobtsov. Photo credit: Ivan Antypenko
Volodymyr Horobtsov. | Photo: Ivan Antypenko

„Ich schrieb Briefe an Putin, seinen Berater Patruschew und alle russischen Beamten, die mir in den Sinn kamen,” erinnert sich Wolodymyr Horobzow.

In diesen Briefen bat er um Aufklärung über das Schicksal seiner Tochter. Zu seiner Überraschung erhielt er eine Antwort von der FSB-Zentrale auf der Krim.

Anstatt Iryna beim Namen zu nennen, war in dem Schreiben nur von „der genannten Person” die Rede. Anstatt ihren Aufenthaltsort preiszugeben, hieß es dort außerdem: „Die genannte Person war in Aktivitäten gegen die Sonderoperation verwickelt. Diese Person wird gemäß den geltenden Gesetzen festgehalten. Eine Entscheidung über die genannte Person wird erst nach Abschluss der Militäroperation getroffen.”

Dies bestätigte, dass sich Iryna tatsächlich auf der Krim befand. Ende Juli 2022 fuhren ihre Eltern daher auf die besetzte Halbinsel, ohne konkreten Plan.

„Wir hatten keine Ahnung, wohin wir gehen oder wen wir kontaktieren sollten,” erinnert sich Wolodymyr. "Wir gingen einfach ins FSB-Büro in Simferopol und dann zum Untersuchungsgefängnis, aber wir kamen nirgendwo weiter.”

Mithilfe von ehrenamtlichen Anwälten und Anwältinnen auf der Krim erhielten sie schließlich die Bestätigung, dass Iryna in einem der Gefängnisse von Simferopol festgehalten wurde. Zunächst befand sie sich in Einzelhaft im Untersuchungsgefängnis Nr. 1, in dem psychologische Folter praktiziert wird.

Von dort schickte sie ihren ersten Brief aus dem Gefängnis, in dem sie mitteilte, dass sie nicht körperlich gefoltert werde.

Iryna Horobtsova's letter home. Photo | Viktoria Novikova
Iryna Horobtsowas Brief aus dem Gefängnis | Foto: Viktoria Novikova

Fünf Monate später, im Oktober 2022, wurde Iryna in das Untersuchungsgefängnis Nr. 2 verlegt, wo sie die nächsten 17 Monate ihres Lebens verbrachte. Während dieser Zeit wurde sie ohne jeglichen offiziellen Rechtsstatus festgehalten – selbst nach russischem Recht.

„Sie hielten sie völlig im Dunkeln”, erklären ihre Eltern.

Ihre Familie erhielt weder eine formelle Anklageschrift noch Informationen darüber, wie sie mit ihr in Kontakt treten konnte. Auch Iryna wurde jeglicher Kontakt zu ihrem privaten Anwalt untersagt. Die Russen stellten ihr einen Pflichtverteidiger, der seine Aufgabe lediglich oberflächlich erfüllte.

Jurij Bielussow, Leiter der Abteilung zur Bekämpfung von Verbrechen während bewaffneter Konflikte bei der Generalstaatsanwaltschaft, erklärt, dass solche Praktiken gegenüber ukrainischen Geiseln im russisch-ukrainischen Krieg üblich sind:

„Die Besatzer sagen den Gefangenen: ‚Niemand weiß, wo du bist. Niemand weiß, was hier mit dir geschieht. Ich kann mit dir tun, was ich will.‘ Genau deshalb verbergen sie ihre Gefangenen – damit niemand sehen oder wissen kann, wo sie sind. Sie glauben, dass sie sich so der Verantwortung entziehen können.“

Ende März 2024 wurde Iryna zurück in das Untersuchungsgefängnis Nr. 1 verlegt. Erst dann eröffneten die Russen das, was sie als Strafverfahren bezeichneten, und beschuldigten sie der Spionage, um ihre Inhaftierung nachträglich nach russischem Recht zu legalisieren. Ein Gericht verhandelte den Fall, und ein illegaler, von der russischen Besatzungsverwaltung ernannter Richter ordnete ihre offizielle Festnahme an.

Russische Ermittler konstruierten Anschuldigungen gegen Iryna und behaupteten, sie sei unter dem Decknamen „Alaska“ angeworben worden, um zwischen dem 24. Februar und dem 15. März 2022 heimlich mit dem ukrainischen Militärgeheimdienst zusammenzuarbeiten.

A copy of the first page of the so-called Simferopol court’s detention order from March 28, 2024. Provided by Iryna’s parents
Eine Kopie des sogenannten Simferopol-Gerichtsbeschlusses vom 28. März 2024. Zur Verfügung gestellt von Irynas Eltern.

„Die Blumenzelle”

Das Untersuchungsgefängnis Nr. 1 in Simferopol ist überfüllt mit Ukrainern und Ukrainerinnen. Seit 2014 ist diese Einrichtung der russischen Besatzer berüchtigt, weil dort auch prominente Gefangene wie der Filmemacher Oleh Senzow, Journalisten und Journalistinnen sowie Menschenrechtsaktivist*innen inhaftiert sind.

2022 leisteten die Ukrainer*innen in den besetzten Gebieten mehr Widerstand, als die Russen erwartet hatten. Deshalb wurde das Gefängnis vergrößert, um mehr als 400 zusätzliche Widerständler*innen unterzubringen.

Iryna teilt sich derzeit eine Zelle mit sechs anderen Frauen im Alter von 17 bis 40 Jahren. Alle sind illegal inhaftierte Ukrainerinnen, die nach Artikel 276 des russischen Strafgesetzbuchs der Spionage beschuldigt werden.

Am 15. August 2024 wurde Iryna vom sogenannten „Chersoner Regionalgericht” im besetzten Simferopol zu 10,5 Jahren Gefängnis verurteilt. Da sie als Zivilistin nicht als Kriegsgefangene anerkannt werden kann, bleibt sie eine Geisel. Nach internationalem humanitärem Recht müssen zivile Geiseln bedingungslos repatriiert werden.

Jurij Bielussow betont, dass neben den zahllosen Kriegsverbrechen Russlands gegen die Zivilbevölkerung in solchen Fällen auch das Recht auf ein faires Verfahren eklatant verletzt wird:

„Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter betonen immer wieder die Notwendigkeit, drei Rechte für Inhaftierte zu gewährleisten: das Recht auf Rechtsbeistand, das Recht auf medizinische Versorgung und das Recht auf Kommunikation mit der Außenwelt. Iryna hatte drei Jahre lang keinen Kontakt zur Außenwelt, keinen angemessenen Rechtsbeistand, und man kann sich nur vorstellen, wie es um die medizinische Versorgung dort bestellt ist. Allein diese Verstöße lassen Zweifel an einem Urteil gegen sie aufkommen.”

Im Moment ist Iryna noch in Simferopol, aber die Besatzer könnten sie bald in eine Strafkolonie irgendwo im tiefsten Russland verlegen.

Während der Verkündung ihres „Urteils“ im Sommer 2024 wurde Iryna im Gerichtssaal gefilmt. Die Russen haben das Material zu Propagandazwecken veröffentlicht.

Das Büro des ukrainischen Ombudsmanns und die Koordinierungsstelle für die Behandlung ziviler Kriegsgefangener, die beide für die Rückführung ziviler Geiseln zuständig sind, sind gegen den Willen Russlands nahezu machtlos.

Ein Vertreter des Koordinierungszentrums erklärte anonym: „Wir kennen alle inhaftierten Frauen sowie Tausende andere zivile Geiseln und bereiten alles für ihre Rückkehr vor. Wir priorisieren auch die Rückkehr von Frauen. Aber die Russen weigern sich einfach, sie freizulassen.”

Das Verfahren für die Rückführung - die bedingungslose Rückkehr der zivilen Geiseln - ist im Völkerrecht nicht ausdrücklich vorgesehen, da es die sofortige Rückkehr der Personen in das Gebiet ihrer Staatsangehörigkeit verlangt. In der Zwischenzeit begehen die Russen in den besetzten ukrainischen Gebieten weiterhin Kriegsverbrechen, entführen Zivilisten und Zivilistinnen, verurteilen sie rechtswidrig und halten sie unter entsetzlichen Bedingungen fest.

Seit dem 24. Februar 2022 haben ukrainische Strafverfolgungsbehörden 4.136 Strafverfahren wegen solcher Verbrechen registriert. Die meisten – über tausend – ereigneten sich in der Region Cherson. Hinter jeder dieser Zahlen stehen Angst, Verzweiflung, Trauer und Schmerz – aber auch ein unbeugsamer Überlebenswille und die Forderung nach Gerechtigkeit und Freiheit.

Der Text wurde in Zusammenarbeit mit The Reckoning Project erstellt, einem weltweiten Team von Journalist*innen und Anwält*innen, die Fälle von Kriegsverbrechen dokumentieren, veröffentlichen und aufarbeiten. Vielen Dank an Michael Shtekel für diese Wiederveröffentlichung
👉 Originalartikel auf Signal to Resist

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