
Lea Ypi wurde in Albanien geboren, studierte Philosophie in Italien und lebt heute in Großbritannien, wo sie Politikwissenschaften an der London School of Economics lehrt. Ihre Forschungsarbeiten befassen sich mit politischer Theorie, Migration, Marxismus und politischem Denken. Sie ist Autorin mehrerer Bücher und Artikel. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Confini di classe. Diseguaglianze, migrazione e cittadinanza nello stato capitalista - ("Klassengrenzen. Ungleichheiten, Migration und Staatsbürgerschaft im kapitalistischen Staat", Feltrinelli, 2025).
Il Manifesto: Lea Ypi, was halten Sie von den von der Regierung Meloni in Albanien errichteten Haftanstalten für Migrantinnen und Migranten?
Lea Ypi: Ich halte dies für eines der peinlichsten Kapitel in der Geschichte Albaniens seit dem Ende des Kommunismus. Es schmerzt mich besonders, dass die Regierung meines Landes mit seiner langen Auswanderungsgeschichte und seiner großen Tradition der Gastfreundschaft, sich für eine solche Politik hergibt. Es handelt sich um Gefängnisse für Menschen, die kein Verbrechen begangen haben, außer dem, vor Krisen wie Krieg oder wirtschaftlicher Regression zu fliehen, an denen liberale Staaten oft mitschuldig sind. Wir Albaner*innen tun nun anderen das an, was wir niemals wollten, dass man es uns antut.
Was hat die albanische Regierung dazu bewogen, sich in eine Haftanstalt für Migranten und Migrantinnen zu verwandeln?
Da es diesbezüglich überhaupt keine Transparenz gab, kann das niemand genau sagen. In der Vergangenheit wurde ein ähnlicher Vorschlag des Vereinigten Königreichs abgelehnt. Das Abkommen mit Italien hingegen wurde ohne öffentliche Debatte oder überzeugende Erklärungen und mit nur sehr wenigen Gegenstimmen angenommen.
Die Befürwortenden werden leider oft durch Rassismus und die Logik der europäischen Rechten angetrieben, die sie verinnerlicht haben.
Kann man Vermutungen anstellen?
Ja, dahinter steckt sicher eine neokoloniale Abhängigkeit, Unterwürfigkeit, politisches Kalkül, um sich angesichts der Versprechen einer EU-Erweiterung die Gunst der europäischen Rechten zu sichern und das Streben nach Protagonismus. Ich würde nicht ausschließen, dass es sich auch um ein taktisches Manöver handelt: In den letzten Jahren wurde in Albanien viel über die Abwanderung von Fachkräften und jungen Menschen gesprochen, die anderswo nach Alternativen suchen. Durch die Haftanstalten will man davon ablenken und Albanien als ein entwickeltes Land darstellen, das es verdient, Teil der Europäischen Union zu sein, weil es Einwanderinnen und Einwanderer aufnimmt, anstatt sie zu produzieren.
Was halten Sie vom britischen Premierminister Starmer, der die Initiativen der Regierung Meloni begrüßt?
Es handelt sich um ein rein propagandistisches Manöver, das durch den Wahlkampfdruck von rechten Gruppierungen wie Reform UK diktiert wird und Teil einer mittlerweile leider gängigen Dynamik innerhalb der europäischen Mitte-Links-Parteien ist: der Rechten auf ihrem Terrain zu folgen, anstatt die Bedingungen der öffentlichen Debatte zu ändern.
Die Idee dahinter ist, dass man durch eine „strenge” Einwanderungspolitik wieder Konsens schaffen kann. Aber das ist eine gefährliche Illusion, denn wenn es um Inhaftierung, Abschiebung und Kriminalisierung von Migrierenden geht, ist die Rechte immer glaubwürdiger und effektiver. Man kann sie nicht mit ihrer eigenen Sprache, ihrer eigenen Logik und ihren eigenen Mitteln besiegen. Zum jetzigen Zeitpunkt werden die Menschen immer das Original und nicht die Kopie wählen.
Starmer hat die Arbeitslosenunterstützung und die Mittel für internationale Zusammenarbeit gekürzt, um die Militärausgaben seines Landes zu erhöhen. Was halten Sie davon?
Diese Entscheidung passt perfekt zu einem Trend, den mittlerweile die meisten Mitte-Links-Parteien in Europa mitgehen: die Verabschiedung von Maßnahmen, die keine Alternative zu Neoliberalismus oder aggressivem Nationalismus darstellen, sondern lediglich eine „moderate” und ebenso schädliche Variante davon sind. Diese Entscheidung bricht eindeutig mit der pazifistischen, internationalistischen und kosmopolitischen Tradition, die zumindest theoretisch das Ideal des Nachkriegseuropas inspiriert hatte. Dieses beruhte auf Zusammenarbeit, sozialer Gerechtigkeit und internationaler Solidarität als Grundlagen für eine Alternative zu den Katastrophen der Vergangenheit.
In „Confini di classe“ (Grenzen der Klasse) beschreiben Sie, wie sich die Staatsbürgerschaft in eine Ware verwandelt hat, die man auf dem Markt erwerben kann. Trump verfolgt zum Beispiel diese Logik in den USA. Was hat das für Konsequenzen für die Abschiebung?
Abschiebung ist das Disziplinierungsinstrument eines Staates, der seine integrative und demokratische Funktion der Staatsbürgerschaft aufgegeben hat und sie zu einem Zeichen der Zugehörigkeit und Identität macht. Diese Praxis trägt dazu bei, institutionelle Gewalt zu normalisieren und sie in den Augen der Öffentlichkeit akzeptabel, legal und sogar notwendig zu machen. So wird das, was eigentlich ein Versagen der demokratischen Politik sein sollte (die Unfähigkeit zur Inklusion), als Beweis für Effizienz (die Fähigkeit zur Exklusion) umgedeutet.
Der Identitätskonflikt zwischen „Einheimischen” und „Einwanderern”, das „wir gegen sie” scheint den Klassenkonflikt zu überlagern. Wie erklären Sie sich das?
Das liegt daran, dass wir die Fähigkeit verloren haben, eine strukturelle Kritik am Kapitalismus zu formulieren. Wir haben aufgehört, über die materiellen Wurzeln der Ungerechtigkeit zu sprechen, über die Ungleichheiten, die nicht durch „kulturelle Unterschiede”, sondern durch die Position in den sozialen Produktionsverhältnissen entstehen.
Und so lesen wir den Konflikt nicht als Kampf zwischen denen, die die wirtschaftliche Macht innehaben, und denen, die davon ausgeschlossen sind, sondern als einen Konflikt zwischen Identitäten, zwischen „unvereinbaren” Gemeinschaften und zwischen „bedrohten” Kulturen.
In „Confini di classe” sprechen Sie von einem „Dilemma der Progressiven” im Zusammenhang mit der Einwanderung. Worin besteht dieses?
Dieses Dilemma wird oft als tragische Wahl zwischen Offenheit gegenüber dem Anderen und dem Schutz des inneren sozialen Zusammenhalts dargestellt. Die These lautet, dass Einwanderung die materiellen und kulturellen Voraussetzungen der demokratischen Solidarität gefährden kann: einerseits, indem sie Druck auf die Sozialdienste ausübt, andererseits, indem sie die kulturellen Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens untergräbt, das für die Aufrechterhaltung eines universellen Sozialstaats notwendig ist.
Die Antworten auf dieses Dilemma konzentrierten sich bisher auf zwei Modelle: die multikulturelle Solidarität, die auf Inklusion durch die Anerkennung von Unterschieden setzt, und die supranationale Solidarität, die versucht, die Umverteilungsmechanismen über die Grenzen des Nationalstaates hinaus, beispielsweise auf europäischer Ebene, auszuweiten. In beiden Fällen wurde jedoch eine dritte Möglichkeit übersehen, die ich für zentral halte: die Klassensolidarität.
Wie definieren Sie den Begriff der Klasse?
Es handelt sich nicht einfach um eine empirische Kategorie, sondern um eine Möglichkeit, fragmentierte Erfahrungen miteinander in Beziehung zu setzen, die es ermöglicht, die tatsächlichen Machtverhältnisse zu erkennen und sich nicht als isolierte Individuen oder kulturelle Opfer, sondern als Teil derselben materiellen Verhältnisse zu verstehen.
Wie entsteht heute ein Klassenbewusstsein?
Das hängt davon ab, wie man seine eigene Erfahrung interpretiert, welche Konzepte man damit verbindet und welche kollektiven Instrumente man hat, um sie zu organisieren. Und hier zeigt sich die Bedeutung der Rolle von Parteien und Bewegungen für die Schaffung eines hegemonialen Diskurses.
„Es bedarf einer erneuten Aufmerksamkeit für die Klasse nicht als einfache wirtschaftliche Identität, sondern als politischer Horizont, der sowohl Migranten und Migrantinnen als auch einheimische Arbeitnehmer*innen in einem gemeinsamen Kampf gegen die wahre Unterdrückung verbinden kann”
Es geht darum, ein Parteimodell als „modernen Fürsten” wiederzugewinnen, wie Gramsci sagte. Wenn niemand an deiner Seite arbeitet, sich deinen Kämpfen anschließt und dir erklärt, dass deine prekäre Lage mit der Finanzialisierung der Wirtschaft, dem Abbau des Sozialstaats und der Verlagerung von Arbeitsplätzen zusammenhängt, dann ist es leicht zu glauben, dass du von Migranten und Migrantinnen bedroht bist, die für weniger Geld arbeiten, oder von Flüchtlingen, die „Hilfe erhalten”. Und es wird weiterhin nicht denen dienen, die ausgeschlossen sind, sondern denen, die wollen, dass sie ausgeschlossen bleiben.
Wie erklären Sie die Idee der „kulturellen Vielfalt”?
Nicht der Verlust der Solidarität ist die Ursache für Entfremdung, Misstrauen und Fragmentierung, sondern die Aufgabe der Klasse als gemeinsames politisches Subjekt. Die Perversion der Beziehung zwischen Staat und Markt hat dazu geführt, dass Parteien Bürger*innen, Konsument*innen und die Staatsbürgerschaft wie eine Ware behandeln.
Es bedarf einer erneuten Aufmerksamkeit für die Klasse nicht als einfache wirtschaftliche Identität, sondern als politischer Horizont, der sowohl Migranten und Migrantinnen als auch einheimische Arbeitnehmer*innen in einem gemeinsamen Kampf gegen die wahre Unterdrückung verbinden kann. Nur wenn wir zu einer strukturellen Lesart des Konflikts zurückkehren, können wir den Knoten des sogenannten progressiven Dilemmas wirklich lösen. Ungleichheiten, Probleme beim Zugang zu Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung resultieren nicht aus der Anwesenheit des Anderen, sondern aus einem Wirtschaftssystem, das öffentliche Güter privatisiert, Arbeit zu einer Ware gemacht und die Staatsbürgerschaft ihrer integrativen Funktion beraubt hat.
Auch ihre Geschichte ist eine Geschichte der Einwanderung. Wie stark hat die soziale Klasse dabei eine Rolle gespielt?
Meine Geschichte ist komplex, aber sie beginnt mit einer Migrationserfahrung. Ich bin im kommunistischen Albanien in einer Familie von sogenannten „Klassenfeinden” aufgewachsen, die zur Oberschicht oder zur Aristokratie in der vorkommunistischen Zeit gehörten. In den 1990er-Jahren bin ich mit meiner Familie nach Italien ausgewandert, wo es damals heftigsten Rassismus gegenüber Albaner*innen gab.
Das hat mich meine Identität als Albanerin aus einer muslimischen Familie entdecken lassen und mich dazu gebracht, über das Verhältnis zwischen Klasse und ethnischer Zugehörigkeit einerseits und zwischen Klassenidentität und Klassenbewusstsein andererseits nachzudenken.
Wie beurteilen Sie Ihre Situation heute ?
Ich bin eine „privilegierte” Einwanderin, habe die verschiedenen Sprach- und Staatsbürgerschaftstests bestanden und werde nicht mehr als Belastung für die Gesellschaft angesehen. Aber ich weiß nicht, wie lange das noch so bleiben wird. Wenn der Angriff der Rechten weitergeht, bezweifle ich, dass er bei der illegalen Einwanderung Halt machen wird.
Wenn es um die Jagd auf Identitäten geht, reicht schon ein anderer Nachname, um ins Visier zu geraten. Das ist in der Vergangenheit denen passiert, die Goldstein oder Levi hießen, und könnte jetzt denen passieren, die Mohammed oder Abdallah heißen. Auch deshalb ist es wichtig, Identitätsnarrative vollständig zu entlarven, um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
👉 Originalartikel auf Il Manifesto
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