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Migrations- und Asylpakt: die Europäische Union erlaubt die Inhaftierung von Kindern an den Grenzen

Der Migration- und Asylpakt wurde am 10. April 2024 vom Europäischen Parlament verabschiedet und erlaubt neben anderen umstrittenen Maßnahmen auch die Inhaftierung von Migrantenkindern an den Grenzen Europas. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir eine von Investigate Europe durchgeführte Untersuchung, die im Februar dieses Jahres ausgestrahlt wurde. Darin wird aufgezeigt, wie einige Staaten unter Führung Frankreichs auf eine weitere Verschärfung der in dem Text enthaltenen Maßnahmen hingearbeitet haben, selbst auf die Gefahr hin, Menschenrechtsorganisationen gegen sich aufzubringen.

Veröffentlicht am 11 April 2024 um 14:16

Vertrauliche Dokumente, die Investigate Europe erhalten hat, zeigen, wie Frankreich und die Niederlande, zusammen mit Dänemark, Malta, der Tschechische Republik und anderen die Unterhändler*innen dazu drängten, die Maßnahmen des Migrations- und Asylpakt (am  10. April 2024 vom Europäischen Parlament aufgenommen), zu verhärten. Aktivist*innen und die Vereinten Nationen sagten, solche Maßnahmen könnten gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstoßen, die von allen EU-Ländern unterzeichnet wurde.

Die Reformen, um die seit Jahren gerungen wird, die aber nun im April verabschiedet werden könnten, würden den Staaten mehr Befugnisse in Bezug auf Migrationsfälle geben und die Zahl der Neuankommenden begrenzen. Eine Einigung zwischen dem Rat der EU und dem Europäischen Parlament im Dezember wurde von Beamt*innen als „historisch“ begrüßt. Nach Ansicht von Menschenrechtsgruppen hätte dies jedoch eine „Zunahme des Leids“ für diejenigen zur Folge, die nach Europa einreisen wollen.

Die am 20. Dezember verkündete Einigung kam nach monatelangen Gesprächen hinter verschlossenen Türen zustande. Der Kern der Debatten fand im Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (AStV) statt, in dem Botschafter aus allen EU-Ländern über künftige Gesetze verhandeln. Protokolle dieser Sitzungen, die Investigate Europe vorliegen, zeigen, wie eine Reihe von Regierungen heimlich daran gearbeitet hat, die Vorschläge zu beeinflussen und zu verschärfen.

Bei einer Sitzung am 15. Mai 2023 begrüßte der französische Vertreter die Entscheidung, Altersgrenzen für die Inhaftierung ankommender Migranten aufzuheben. Auch die Niederlande, Dänemark und die Tschechische Republik haben die französische Haltung schon früh unterstützt, wie aus AStV-Protokollen hervorgeht, die von Mai bis Dezember 2023 eingesehen wurden.

Auf einer Sitzung am 18. Dezember wurde festgestellt, dass mindestens 11 Mitgliedstaaten „weiterhin eine generelle Ausnahme von Minderjährigen ablehnen“. Bei einer Sitzung einen Monat zuvor erklärte Malta, der Ausschluss Minderjähriger vom Grenzverfahren sei „aufgrund der Missbrauchsanfälligkeit (Vortäuschung der Minderjährigkeit) nicht praktikabel und wird daher mit großer Skepsis betrachtet“. Die niederländische Position war ähnlich eindeutig: „Die Niederlande lehnen pauschale Ausnahmen vom Grenzverfahren für Minderjährige und ihre Familienangehörigen ab“.

Deutschland erklärte dagegen, die Aufhebung der Ausnahmeregelung sei „nicht akzeptabel“. Portugal, Irland und Luxemburg äußerten ähnliche Bedenken, wobei ein Vertreter des letztgenannten Landes sagte: „Die Inhaftierung von Kindern kommt keinesfalls in Frage“.

„Das ist die Verallgemeinerung des Hotspot-Systems“, sagte Federica Toscano von Save The Children Europe. Solche Einrichtungen, die in Griechenland und Italien weit verbreitet sind, wurden wegen Überbelegung, unzureichender Dienstleistungen und Kriminalität verurteilt. „Dieses System, in dem Kinder und Erwachsene gemischt werden, hat zu schlimmster Gewalt gegen Minderjährige geführt: Vergewaltigung, Körperverletzung.“

Ein Sprecher der luxemburgischen Regierung sagte, dass sie „im Interesse eines Kompromisses“ die Texte letztendlich unterstützte und fügte hinzu: „Wir hoffen, dass das Paket als Ganzes die notwendigen Verbesserungen vor Ort bringen kann, mit neuen Regeln, die von allen respektiert werden“. Auch Schweden unterstützte die Aufnahme der Klausel.


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Ein Sprecher der niederländischen Regierung sagte, sie unterstütze die Klausel zum Teil, um Menschen zu identifizieren, die wenig Chancen auf Asyl haben. „NL hat sich für die Aufnahme dieser Gruppe ausgesprochen, um zu verhindern, dass Migrierende, die versuchen, das Verfahren zu umgehen, ihre Kinder auf die Reise in die EU mitnehmen.“

Die Regierungen Frankreichs, Dänemarks, Maltas, der Tschechischen Republik und Deutschlands haben bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht auf Anfragen reagiert.

Kinder, die allein an den Grenzen ankommen, könnten ebenfalls negativ betroffen sein. Heute können unbegleitete Minderjährige nicht legal inhaftiert werden – obwohl das in der Praxis alarmierend häufig geschieht. Geplante Gesetze besagen, dass unbegleitete Kinder bis zu drei Monate lang in Grenzeinrichtungen festgehalten werden können, wenn sie eine „Gefahr für die nationale Sicherheit“ darstellen – eine Entscheidung, die von den einzelnen Staaten getroffen wird.

Auch hier war Frankreich eine treibende Kraft. „Die Befreiung unbegleiteter Minderjähriger von den Grenzverfahren stellt ein großes Risiko für den Schutz unserer Grenzen dar“, sagte der Vertreter Frankreichs auf der Sitzung des AStV am 15. Mai und fügte hinzu, dass eine Befreiung „zum Handel mit minderjährigen Migrierenden“ ermutigen könnte. Die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen, die nach Europa kommen, nimmt zu. Im Jahr 2021 kamen etwa 25.000, 2022 waren es laut Eurostat bereits 39.000.

Wenn ein Kind verdächtigt wird, „irreführende Angaben“ zu machen, aus einem „sicheren Land“ oder einem Land kommt, in dem der Anteil der Personen, denen Asyl gewährt wird, 20 Prozent oder weniger beträgt, kann sein Antrag nun von den Staaten beschleunigt werden. Dies könnte die Chance erhöhen, dass Minderjährige schnell in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden.

Zum Beispiel Kinder aus Tunesien, der Türkei, Albanien, Indien oder Serbien, deren Länder als sicher gelten. „Man kann das Thema Asyl nicht verallgemeinern“, erklärt der Rechtsanwalt Gianfranco Schiavone von der Vereinigung für juristische Studien über Einwanderung in Italien. „Ein junger Tunesier kann vor Gewalt oder Folter in seinem eigenen Land fliehen, auch wenn es theoretisch ‚sicher‘ ist. Asyl muss von Fall zu Fall geprüft werden.“

Toscano sagte, dass die Änderungen eine „historische Verletzung des internationalen Schutzes für Kinder“ darstellen.

„Diese Bestimmungen sind eine Katastrophe“, so Damien Carême, ein grüner Europaabgeordneter und Schattenberichterstatter für eine der fünf Verordnungen des Paktes, der an den abschließenden Trilogverhandlungen beteiligt war. „Es herrscht totale Intransparenz. Wir wurden um 23.40 Uhr zu Verhandlungen einberufen, die auf 1.30 Uhr, 3.30 Uhr verschoben wurden, und dann wurde uns um 6.30 Uhr der Text auf den Tisch gelegt, ohne dass wir ein Mitspracherecht hatten“. Carême bezeichnete den aktuellen Text als „unmenschlich“ und sagte, die Lobbyarbeit sei ein Versuch, vor den Europawahlen im Juni die Unterstützung der Öffentlichkeit zu gewinnen.

Ein Vertreter Spaniens, das bis Dezember die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, forderte die AStV-Mitglieder im Juli auf, ihre „Unzufriedenheit“ zurückzustellen, und betonte die Notwendigkeit einer Einigung vor den Europawahlen. „Wir mussten auch fertig werden, bevor Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt (Juli 2024). Aber gleichzeitig sind wir gegen eine Wand gelaufen, und jedes Mal wurde uns gesagt: ‚Nein, es gibt keinen Verhandlungsspielraum‘“, so eine bei den Treffen anwesende parlamentarische Quelle.

Am 15. Dezember schrieb der UN-Sonderberichterstatter für Migration, Gehad Madi, an die drei Präsident*innen der europäischen Institutionen, Ursula von der Leyen, Roberta Metsola und Charles Michel. Er teilte ihnen mit, dass der Pakt gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstößt, in der ein Kind als „jedes menschliche Wesen unter 18 Jahren“ definiert wird. Er betont, dass die Inhaftierung von Kindern aufgrund ihres Migrierendenstatus eine Verletzung ihrer Rechte darstellt.

Außerdem wurde eine Bestimmung über die biometrische Abnahme von Fingerabdrücken ab dem sechsten Lebensjahr aufgenommen. Gegenwärtig dürfen die Fingerabdrücke von ankommenden Migrierenden und Asylbewerber*innen erst ab einem Alter von 14 Jahren abgenommen werden. Bezeichnenderweise würde der vorgeschlagene Text die Anwendung von „Zwang“ gegen Kinder zulassen, die sich weigern, ihre Daten aufnehmen zu lassen.

„Es ist ein vages Konzept“, sagte Toscano von Save The Children. „Es gibt keine Definition dieses Wortes in dem Text, aber jede Form von Zwang auf Minderjährige in Migrationsverfahren ist eine Verletzung ihrer Rechte, die alle europäischen Staaten zu schützen verpflichtet sind.“

Investigate Europe war nicht in der Lage, das Protokoll des AStV zu erhalten, in dem die biometrischen Fingerabdrücke besprochen wurden, und so ist unklar, welche Staaten ebenfalls in diese Richtung drängten.

Ein Sprecher der Europäischen Kommission sagte, „ein verhältnismäßiges Maß an Zwang“ dürfe nur „als letztes Mittel“ eingesetzt werden. Zu dem Pakt sagte der Sprecher, dass die Staaten immer das Wohl des Kindes berücksichtigen und internationale Verträge respektieren müssen. „Die Mitgliedstaaten sollten das Wohlergehen und die soziale Entwicklung der Minderjährigen, einschließlich ihres Hintergrunds, gebührend berücksichtigen.“

Ein weiterer strittiger Punkt ist der Ausschluss von Geschwistern aus dem „Familien“-Rahmen, der nun nur noch Eltern und Kinder umfasst. Konkret: Wenn ein Kind nach Europa kommt, zum Beispiel mit einem Onkel, kann es sich nicht mehr seinen Geschwistern anschließen, die bereits in der EU ansässig sind. Frankreich, die Niederlande, Ungarn, Dänemark, Schweden und andere unterstützten diesen Änderungsantrag, wie aus dem Protokoll des AStV hervorgeht.

„Dies war der schwierigste Kampf“, sagte eine parlamentarische Quelle, die an den letzten Verhandlungen teilnahm. „Wir haben mehrmals versucht, Geschwister in den Text aufzunehmen, aber der Rat hat sie systematisch gestrichen, und zwar bis zum letzten Tag. Am Ende gelang es ihnen jedoch, die Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger durchzusetzen, die im Gegensatz zu den mit ihren Familien reisenden Kindern zu ihren Brüdern und Schwestern reisen können. Das ist absurd.“

Auch zivilgesellschaftliche Gruppen sind über die aktuellen Vorschläge bestürzt. Die französische Nichtregierungsorganisation Cimade, die sich für die Rechte von Geflüchteten und Migrierenden in ganz Europa einsetzt, brachte das Unbehagen auf den Punkt. „Wir denken jedes Mal, dass wir den Tiefpunkt der Unmenschlichkeit erreicht haben, aber in Wirklichkeit sind wir noch tiefer gesunken.“

Dieser Artikel ist eine Übersetzung des Originals, das auf der Website von Investigate Europe in englischer Sprache verfügbar ist. Er ist auch ein Teil von EU under Pressure“ (Die EU unter Druck), einer Serie von Investigate Europe, die sich mit wichtigen Themen im Vorfeld der Europawahlen im Juni 2024 befasst.
👉 Originalartikel auf Investigate Europe

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