Interview Nach den Europawahlen

Alain Caillé: „Unsere Gesellschaften werden zu umgekehrten totalitären Regimen“

Der bei der letzten Europawahl bestätigte Aufstieg der extremen Rechten ist das Symptom „einer dreifachen Panik – auf ökologischer, wirtschaftlicher und identitärer Ebene“ der Bürger*innen, die das Überleben des europäischen Projekts als solches bedroht, meint der französische Soziologe Alain Caillé.

Veröffentlicht am 19 Juni 2024 um 21:28

Alain Caillé ist emeritierter Professor an der Universität Paris Ouest-Nanterre. Als Gründer der Zeitschrift MAUSS und Leiter der International Convivialist Association hat er im Jahr 2023 Extrême droite et autoritarisme partout, pourquoi im französischen Verlag Le Bord de l'eau veröffentlicht.

Voxeurop : In vier Ländern, die zusammengenommen ein Drittel der europäischen Bevölkerung repräsentieren, ist ein Aufschwung der extremen Rechten zu beobachten. Gibt es eine Zunahme von Intoleranz, fremdenfeindlichen und nationalistischen Ideen in Europa?

Alain Caillé : Daran, dass es in Europa eine Zunahme von Intoleranz, fremdenfeindlichen und nationalistischen Ideen gibt, kann angesichts des Aufstiegs der extremen Rechten kein großer Zweifel bestehen. Sie gedeiht bekanntlich gerade auf der Grundlage dessen, dass Ausländer*innen, insbesondere Migrierende und der Islam, für alles verantwortlich gemacht werden. Dennoch wäre es angebracht, etwas genauer hinzusehen.

Meinungsumfragen zeugen nämlich im Gegenteil von einer immer höheren Akzeptanz von Ausländerinnen und Ausländern, zum Beispiel in Frankreich, wo der Sieg der extremen Rechten bei der Europawahl besonders spektakulär war. Dieser Aufstieg hat also auch viele andere Gründe. Was bleibt, ist eine wachsende Ablehnung der Einwanderung.

Wie ist es dazu gekommen?

Die Ursachen sind vielfältig und komplex. Lassen Sie uns drei herausgreifen, die weitgehend miteinander verknüpft sind. Die erste ist die systemische Opposition gegen die amtierenden Regierungen, ganz gleich, wie sie sich zusammensetzen. Da es keiner gelingt, eine glaubwürdige glückliche Zukunft zu bieten, wird nicht für, sondern gegen sie gestimmt. Die Wahl der extremen Rechten spiegelt eine starke Ablehnung der Regierungsparteien wider. Wenn die extreme Rechte an die Macht kommt oder sich ihr nähert, beginnt man jedoch, gegen sie zu stimmen (wenn das noch möglich ist), wie man vor kurzem in Polen oder bei der letzten Europawahl in Schweden oder in Ungarn beobachten konnte.

Vor diesen konjunkturellen Schwankungen müssen wir jedoch als zweite Ursache zur Kenntnis nehmen, dass der Aufstieg der extremen Rechten mittlerweile weltweit zu beobachten ist. Ihr Aufstieg in Europa ist nur die noch mäßige Auswirkung einer weltweiten Grundströmung, die noch erklärt werden muss. Der dritte Grund ist, dass die extreme Rechte im Umgang mit sozialen Netzwerken viel geschickter und effizienter ist als die traditionellen Parteien. Sie kann jedem genau das sagen, was er hören will. Bleibt die Frage nach den Gründen.

Welche Folgen hat das für die Demokratie: Müssen wir eine Rückkehr des Autoritarismus befürchten?

Diese Zunahme des Autoritarismus ist ein weltweites Phänomen. Sie ist eine paradoxe Reaktion auf die Hegemonie des Neoliberalismus und des Finanzkapitalismus. Sie lassen einen Gesellschaftstyp entstehen, der einem ständigen Beschleunigungszwang unterliegt, der auf Dauer unerträglich ist. Nach außen hin radikal demokratisch, strebt dieser Gesellschaftstyp im Untergrund nach dem Austritt aus der Demokratie.

Die größten Angriffe auf die Demokratie wurden im 20. Jahrhundert von totalitären Regimen unternommen, in denen der Einzelne dem Kollektiv, der Rasse, dem Staat und der Partei geopfert werden musste. Unsere Gesellschaften entwickeln sich dagegen zu umgekehrten totalitären Regimen, in denen alles Gemeinsame dem Individuum, oder besser gesagt dem Konsumenten, geopfert werden muss.

Diese Zersplitterung führt zu einer dreifachen Panik, auf ökologischer, wirtschaftlicher und identitärer Ebene. Die herrschenden Eliten werden diskreditiert und gehasst, weil sie nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollen. Die extreme Rechte baut auf diesem Hass auf, indem sie eine mögliche Rückkehr zu den gemeinsamen Werten von gestern – Familie, Religion, Vaterland, Region – in Aussicht stellt. Doch sie widersetzt sich nicht dem Neoliberalismus, der diese zerstört, sondern stärkt ihn.

Kann man von einem Demokratiedefizit in Europa sprechen?

Sicherlich, aber nur, wenn man sich über die Idee der Demokratie selbst einig ist. Die Herrschaft der Freiheit? Aber individuell oder kollektiv? Die Macht des Volkes, aber welchen Volkes? Das Volk gegen die Eliten? Das nationale Volk oder das europäische Volk? Gleichheit, aber wie weit? Wir müssen diese Fragen schnell beantworten, denn niemand kann ausschließen, dass Europa bald die letzte Bastion der Demokratie in der Welt bleiben wird.

Inzwischen ist allerdings das Überleben des europäischen Projekts als solches bedroht. Es weckt keine Begeisterung mehr. Es reicht nicht mehr aus, zu sagen, dass es wirtschaftlichen Wohlstand und Frieden bringen wird: Der Wohlstand wächst in anderen Ländern stärker als in Europa, und die Zukunft des Friedens in Europa ist ungewiss.

Betrachten wir also den europaweiten Aufstieg der extremen Rechten als eine Warnung und eine Aufforderung, das europäische Projekt grundlegend zu überdenken. Ich für meinen Teil sehe nicht, wie es anders Sinn machen könnte, als sich als Schutz vor den Auswirkungen des Neoliberalismus und den verheerenden Folgen der Steuerflucht zu präsentieren.

Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Demokratie zwischen dreißig Ländern, die gezwungen sind, sich zu den schwerwiegendsten Themen einstimmig zu äußern, wieder an Stärke und Macht gewinnen kann. Nur eine Verständigung zwischen Ländern, die eine gemeinsame Außen-, Finanz-, Militär- und Wirtschaftspolitik akzeptieren, könnte hier Abhilfe schaffen. Geht es letztendlich nicht darum, eine europäische Republik hervorzubringen?

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