Interview Für ein konvivialistisches Europa

Alain Caillé : „Uns fehlt eine politische Philosophie, die den Herausforderungen der Umwelt und des Klimas Rechnung trägt“

Angesichts der unterschiedlichen Gefahren muss Europa sich mit effizienten gemeinsamen Institutionen ausstatten, um seine politische Macht im Einklang mit seiner wirtschaftlichen Macht durchzusetzen. Nur so kann seine Stimme endlich wieder gehört werden, meint der Soziologe Alain Caillé.

Veröffentlicht am 14 September 2020 um 12:17

Alain Caillé ist einer der Initiatoren des zweiten konvivialistischen Manifests, das in Frankreich kurz vor der Ausgangssperre vom Verlag Actes Sud herausgegeben wurde. Dieses Manifest ist das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit von etwa 300 Intellektuellen aus 33 Ländern, darunter Claude Alphandéry, Edgar Morin, Hartmut Rosa, Elena Pulcini, Ahmet Insel, Chantal Mouffe, Noam Chomsky. Es versteht sich als Antwort auf die äußerst dringende Situation, in der wir uns befinden, und die durch die Jahrzehnte des „globalen Neoliberalismus“ entstanden ist.

Catherine André für Voxeurop: Können Sie uns die wichtigsten Prinzipien des Konvivialismus nennen, der sich als Antwort auf die neoliberale Ideologie versteht?

An erster Stelle muss betont werden, dass diese rund 300 Intellektuellen und Aktivisten von sehr unterschiedlichen, ja sogar gegensätzlichen politischen und ideologischen Horizonten stammen. Dennoch haben sie sich auf 5 Prinzipien und einen kategorischen Imperativ geeinigt. Bereits im ersten Manifest wurden die Prinzipien der gemeinsamen Menschheit (die das Herzstück des Kommunismus bildet), der gemeinsamen Sozialität (das Herzstück des Sozialismus), der legitimen Individuation (das Herzstück des Anarchismus) und der Konfliktbeherrschung, bzw. der kreativen Opposition (das Herzstück des politischen Liberalismus) dargelegt. Das zweite Manifest fügt ein Prinzip der gemeinsamen Natürlichkeit hinzu (das im ersten Manifest als selbstverständlich verstanden wurde. Allerdings ist es viel besser, dies präzise zu äußern.). Diese fünf Prinzipien sind dem Imperativ des Kampfes gegen das Streben nach Allmacht (bzw. Kampf gegen die Maßlosigkeit) untergeordnet, d. h. dem, was die Griechen hybris nannten. Die erschreckende Explosion der Ungleichheiten auf der ganzen Welt ist dafür das sichtbarste und beunruhigendste Beispiel. Hybris ist nunmehr in der Form dessen vorzufinden, was die Griechen pleonexie nannten, d. h. das unersättliche Verlangen nach Reichtum.


Wie erklärt sich der Siegeszug der neoliberalen Ideologie, die den Weg für eine neue Art von Kapitalismus geebnet hat, den „Kapitalismus im Reinzustand“? Warum konnte sie sich so leicht gegen die am Ende des Zweiten Weltkriegs geborenen Ideen durchsetzen, die insbesondere das europäische Projekt getragen haben?

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Für diesen Triumph gibt es viele, miteinander verflochtene Gründe: Wirtschaft, Finanzen, Medien, Militär, Polizei, usw. Aber derjenige, auf den der Konvivialismus besonders besteht, ist die Kraft der Ideen (wenn sie die materiellen Mittel für ihre Verwirklichung finden). Wir dürfen die Rolle der Mont Pèlerin Society bei der Entstehung des Neoliberalismus nicht unterschätzen. (Sie wurde 1947 von den künftigen „Nobelpreisträgern“ der Wirtschaftswissenschaften mit dem Ziel gegründet, sich vom Keynesianismus und den sozialdemokratischen Regulierungen zu lösen.) Der Neoliberalismus übt seine Hegemonie in gramscischen Sinne aus, sowohl was die rustikale Schlichtheit als auch di…

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