Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow ist einer der produktivsten und vielseitigsten Autoren der Ukraine. Er hat verschiedene Themen im Zusammenhang mit der jüngsten Geschichte der Ukraine behandelt – insbesondere nach der Orangen Revolution von 2004 – sowie mehrere, zum Teil fast surrealistische Krimis geschrieben, die in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion spielen.
Sein bekanntester Roman ist Picknick auf dem Eis (Diogenes Verlag, 2000). Er schrieb die Essays Ukrainisches Tagebuch (Haymon Verlag, 2014), Tagebuch einer Invasion (Haymon Verlag, 2022) und Im täglichen Krieg (Haymon Verlag, 2024). Dieses Interview ist eine bearbeitete Niederschrift des Gesprächs, das er mit Andrea Pipino auf dem Festival Internazionale a Ferrara 2024 führte.
Andrea Pipino: Seit Anfang des Jahrhunderts wurden Sie nach und nach zum Botschafter der ukrainischen Literatur im Ausland. Was ist das Besondere an dieser Literatur? Wie sind Sie Ihrer Meinung nach zu dieser Rolle gekommen, vor allem wenn man bedenkt, was mit der Ukraine nach der russischen Invasion von 2014 passiert ist?
Andrej Kurkow: Ich habe eigentlich 1999 angefangen. Das einzige, was man damals über die Ukraine wusste, bezog sich auf Tschernobyl und die lokale Mafia. Ich glaube, ich habe Hunderte von Buchpräsentationen und Diskussionen geführt. Seitdem habe ich mir angewöhnt, mehr über die Ukraine als über meine Bücher zu sprechen. Denn wenn Sie die Ukraine nicht verstehen, werden Sie wahrscheinlich auch meine Bücher nicht verstehen – auch wenn ich versuche, universelle Geschichten zu schreiben, die von allen Leserinnen und Lesern verstanden werden können.
Das Problem mit der zeitgenössischen ukrainischen Literatur ist, dass sie introvertiert ist. Sie richtet sich an Menschen, die bereits eine Menge über die Ukraine wissen. Gleichzeitig haben sich die Ukrainer*innen immer darüber geärgert, dass die Welt nichts über sie weiß, dass sie den Unterschied zwischen Russinnen und Russen und Ukrainerinnen und Ukrainern nicht versteht.
In Westeuropa neigen wir oft dazu zu denken, dass der Teil des Kontinents, der früher zur Sowjetunion gehörte, mehr oder weniger „Russland“ ist, aber das ist er definitiv nicht: Die Ukraine, die baltischen Länder und sogar die kaukasischen Republiken wie Georgien haben jeweils eine sehr starke nationale Identität. Hat die Situation der letzten Jahre – vor allem seit der umfassenden Invasion der Ukraine – diese Sichtweise verändert?
Leider brauchten wir einen Krieg in der Ukraine, um zu zeigen, dass die Ukraine anders ist als Russland, und zwar so anders, dass Russland versucht, sie genau wegen dieses Unterschieds zu zerstören. Interessanterweise hat die russische Aggression in Georgien kein kulturelles Interesse an Georgien geweckt. Sie hat sich nicht auf die Übersetzung georgischer Literatur oder die Popularität georgischer Filme ausgewirkt.
Ich möchte ein Land aus der ehemaligen Sowjetunion erwähnen, das zu den interessantesten zählt. Gott sei Dank gab es dort keinen Krieg, aber das Ergebnis ist, dass es niemand kennt: Litauen. Wenn Sie ein magisches Königreich suchen, ein winziges magisches Königreich mit der gleichen Einwohnerzahl wie Kyiv, mit vier verschiedenen Regionen, mit einer unglaublichen Geschichte – das litauische Königreich war im 14. Jahrhundert der größte europäische Staat. Heute ist es immer noch ein unglaubliches Land, aber es bleibt weitgehend unbekannt, ebenso wie die litauische Literatur und Kultur.
Die Mehrheit der Russinnen und Russen, einschließlich der Elite, war lange Zeit nicht bereit oder in der Lage zu akzeptieren, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken Länder mit einer eigenen Geschichte, Sprache und Identität sind. Ist dies immer noch der Fall?
Wladimir Putin war, wie er oft wiederholt hat, der Meinung, dass sein größtes persönliches Drama der Zusammenbruch der Sowjetunion war, was bedeutet, dass er von der Wiederauferstehung der Sowjetunion oder des postsowjetischen russischen Reiches träumte. Ich wäre nicht so optimistisch zu sagen, dass Putin nicht plant, die baltischen Staaten anzugreifen.
Russische imperiale Ambitionen in Bezug auf die Ukraine reichen bis ins frühe 18. Jahrhundert zurück. Im Jahr 1709 kam es in der Ukraine zur berühmten Schlacht bei Poltawa, bei der Peter der Große und seine Armee gegen die ukrainische Armee von Hetman Mazepa und die schwedische Armee von Karl XII. antraten. Peter der Große besiegte das ukrainische Heer und die ukrainischen Kosaken, und Hetman Mazepa floh nach Bessarabien, im heutigen Moldawien und Rumänien. Dies war wahrscheinlich die erste große Schlacht, in der Russland praktisch die gesamte Ukraine eroberte. Elf Jahre später unterzeichnete Peter der Große das erste Dekret gegen die ukrainische Identität. Es handelte sich um ein Dekret, das die Veröffentlichung religiöser Texte in ukrainischer Sprache verbot. Dieses Dekret enthielt auch eine Klausel, wonach alle in ukrainischer Sprache verfassten religiösen Bücher aus den Kirchen zu entfernen waren.
Zwischen 1720 und 1917 wurden mehr als 40 Dekrete von verschiedenen russischen Zaren unterzeichnet, um die ukrainische Sprache, Kultur und Identität zu zerstören. Der heutige Krieg ist also nichts Neues. Das Gleiche geschah in Litauen: Den Litauerinnen und Litauern wurde zwar nicht verboten, ihre Sprache zu benutzen, aber sie durften das lateinische Alphabet nicht verwenden. So musste die litauische Sprache auf Beschluss von Zar Alexander II. in kyrillischer Schrift geschrieben und gedruckt werden.
Waren Sie sich der Einzigartigkeit der ukrainischen Kultur schon immer bewusst? Sie wurden im damaligen Leningrad – heute St. Petersburg – geboren und zogen dann nach Kyiv.
Ich wurde in Russland geboren – genauer gesagt in der Sowjetunion – aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Russe oder Ukrainer bin. Ich kann mir nicht 100%ig sicher sein, weil mein Vater und mein Großvater Donkosaken waren. Viele Donkosaken sind eigentlich ukrainischer Herkunft, denn Zarin Katharina die Große verbot das ukrainische Kosaken-Hetmanat und sagte den Kosaken, dass sie sich in der Nähe des Kaukasus niederlassen und diese Grenze für das russische Reich verteidigen müssten, wenn sie ihre Waffen, ihre Gewehre behalten wollten.
Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, war ich sehr glücklich. Natürlich war ich von den Ereignissen schockiert, aber weniger als meine Eltern, die sich ein Leben außerhalb der Sowjetunion oder ohne sie nicht vorstellen konnten. Ich war sehr glücklich, weil ich dachte, dass es nun, da die Ukraine unabhängig geworden war, viel einfacher sein würde, einen unabhängigen europäischen Staat aufzubauen. In jenem Jahr wurde ich politisch ukrainisch, was damals bedeutete, dass ich dem aktiveren Teil der Gesellschaft angehörte, in dem die ukrainische Volksgruppe dominierte.
„Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, war ich sehr glücklich, weil ich dachte, dass es nun, da die Ukraine unabhängig geworden war, viel einfacher sein würde, einen unabhängigen europäischen Staat aufzubauen”
Seit 1991 sind alle Bürger*innen der Ukraine Ukrainer*innen. Es spielt dabei keine Rolle, ob sie krimtatarischer, ungarischer, russischer oder moldauischer Herkunft sind. Wir sind ukrainische Bürger*innen, und das ist meine Identität. Meine Muttersprache ist Russisch. Ich habe Ukrainisch gelernt, als ich 14 war, in einer sowjetischen Schule. Weil ich neugierig war, konnte ich nicht verstehen, warum die Republik Ukraine hieß und niemand in Kyiv Ukrainisch sprach. In der Schule hatte ich nur einen Freund aus einer ukrainischsprachigen Familie.
Nach der Universität arbeitete ich als Lektor für Romane aus anderen Sprachen, die ins Ukrainische übersetzt wurden. Ich selbst schreibe Belletristik auf Russisch, Sachbücher auf Russisch, Ukrainisch und Englisch sowie Kinderbücher, inzwischen hauptsächlich auf Ukrainisch.
Die Sprache ist in der Ukraine zu einem hochsensiblen Thema geworden. In diesem Land sprachen die Menschen bis zur russischen Invasion gleichgültig beide Sprachen. Das ist jetzt nicht mehr der Fall: Viele russischsprachige Ukrainer*innen haben begonnen, Ukrainisch zu lernen und weigern sich, Russisch zu sprechen. War die ukrainische Sprache vor dem Krieg jemals ein Merkmal der nationalen Identität? Und bedeutet Ukrainisch sprechen heute, dass man ein eingefleischter Nationalist ist?
Als ich Student oder Schüler war galt jemand, der in Kyiv Ukrainisch sprach, entweder als Bäuerin oder Bauer oder als Nationalist*in. Und das war auch die Haltung der Kommunistischen Partei der Ukraine: Innerhalb der Partei gab es natürlich ukrainischsprachige Kommunistinnen und Kommunisten, die aber auch sehr gut Russisch sprachen. Das politische System in der Ukraine ist recht anarchisch, was auf die Geschichte des Landes zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern gab es dort nie ein Königshaus, sondern die Ukraine war meist Teil anderer Reiche und Königreiche.
Als die Ukraine vor 1654 ein unabhängiges Territorium war, das von den Kosaken regiert wurde, wählten die Kosaken den Hetman. Er war das Oberhaupt der Armee und des Territoriums. Schon damals waren die Ukrainer*innen politisch unabhängig und sehr willensstark, und ich nehme an, alle sprachen Ukrainisch. Doch 1654 bat der ukrainische Hetman Bohdan Chmelnyzky den russischen Zaren um Hilfe im Krieg gegen Polen. Das war der Anfang vom Ende der ukrainischen Unabhängigkeit.
Später erließ der Kreml mehr als 40 Dekrete, um die ukrainische Identität zu zähmen, und erst nach 1991 begann die ukrainische Sprache in die ukrainischen Gebiete zurückzukehren, aus denen sie von Russland entfernt worden war.
Im Gegensatz zu Russland, das immer eine Monarchie war und wo die Menschen den Zaren lieben und von ihm erwarten, dass er ihr Leben regelt, hat die Ukraine eine lange Tradition einer Art Demokratie. Das hat dazu geführt, dass es heute mehr als 300 politische Parteien gibt, denn wenn jemand in der Ukraine in die Politik geht, will er oder sie eine eigene Partei gründen. Diese Parteien sind nicht ideologisch, sie vertreten Interessengruppen oder Persönlichkeiten. Als die Ukraine ihre Unabhängigkeit wiedererlangte, mussten die Politiker*innen die Gesellschaft spalten, um ihren Anteil an der Wählerschaft zu erhalten. Am einfachsten war die Spaltung zwischen Russisch- und Ukrainischsprachigen.
So versprachen die aktivsten Parteien im Osten den Wählenden, Russisch zur zweiten Amtssprache zu machen, während die aktiven Parteien im Westen den Wählenden versprachen, Russisch zu verbieten und Ukrainisch zur einzigen Sprache in der Ukraine zu machen. Natürlich unterstützte Russland die pro-russischen Parteien. Und Russland hat tatsächlich versucht, die ukrainischen Führenden und Politiker*innen zu zwingen, Russisch als zweite Amtssprache zu akzeptieren, weil es dann viel einfacher gewesen wäre, die Ukraine wieder in das russische Reich zu integrieren, was in Belarus auch geschehen ist.
In Belarus sprechen nur 25 % der Menschen Belarusisch, aber die meisten Schriftstellenden schreiben jetzt auf Russisch. Politisch und kulturell aktive Schriftstellende und Dichtende, die früher auf Belarusisch schrieben, sind heute Geflüchtete in Litauen und Polen, da sie vom Regime von Aljaksandr Lukaschenka als gefährlich angesehen werden.
Und so hat Russland seit 2005 immer wieder erklärt, dass es die russischsprachigen Menschen in der Ukraine verteidigen will. Das Ergebnis dieser Verteidigung ist, dass viele russischsprachige Ukrainer*innen von der russischen Armee im Donbass, in Mariupol, Odessa, Charkiw, Buka und auch in Kyiv getötet wurden.
„Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass die ukrainische Sprache heute definitiv ein Kennzeichen der ukrainischen Identität oder zumindest des ukrainischen Patriotismus ist”
Seit dem 16. Jahrhundert wird die russische Sprache als Instrument benutzt, um die individualistische Mentalität der Ukrainer*innen zu verändern und sie zu Russinnen und Russen zu machen. Lenin hat den Ukrainerinnen und Ukrainern nie vertraut und hat nie Kyiv besucht, obwohl seine Schwester dort lebte. Dieselbe individualistische Mentalität hinderte die Ukrainer*innen in den 1920er Jahren daran, sich den Kolchosen anzuschließen, was die Sowjets dazu veranlasste, ukrainische Bäuerinnen und Bauern in Massen nach Sibirien zu deportieren und die Hungersnot von 1932-33 auszulösen, der mindestens 3,5 Millionen Ukrainer*innen zum Opfer fielen.
In der Sowjetzeit überlebte diese Mentalität nur in der Westukraine, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der Sowjetunion wurde. Davor war sie Teil von Polen.
Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass die ukrainische Sprache heute definitiv ein Kennzeichen der ukrainischen Identität oder zumindest des ukrainischen Patriotismus ist. Natürlich steht es den Menschen frei, zu Hause, auf der Straße usw. andere Sprachen zu sprechen – Tatarisch, Ungarisch, Gagausisch, usw. – aber in offiziellen Situationen wird von ihnen erwartet, dass sie nur Ukrainisch sprechen. Das Gleiche gilt für die Universität: Es wird erwartet, dass man Vorlesungen auf Ukrainisch hält – eine Sprache, die Katharina die Große 1763 aus den Universitäten verbannt hat.
Glauben Sie, dass die Ukraine nach dem Krieg noch in irgendeiner Weise ein mehrsprachiges Land sein kann?
Die Minderheitensprachen werden ohne Probleme gesprochen und verwendet werden, mit Ausnahme des Russischen. Die Gesellschaft ist durch den Krieg stark traumatisiert; in jedem Dorf, in jeder Stadt gibt es Gräber aus dem Krieg. Im Moment ist alles, was russisch ist, verhasst und inakzeptabel; Buchhandlungen weigern sich, Bücher in russischer Sprache zu verkaufen: Die Ukrainer*innen haben auch aufgehört, russische YouTube-Sendungen anzusehen und russische Rock- und klassische Musik zu hören.
Als ich 11 Jahre alt war, wurde ich in der Schule gefragt, ob ich Englisch oder Deutsch als Fremdsprache lernen will. Das war 1972, und ich erinnere mich, dass ich sagte: „Ich werde niemals Deutsch lernen, weil die Deutschen meinen Großvater umgebracht haben“. Ich habe Deutsch gelernt, als ich 37 Jahre alt war. Ich denke also, man kann nicht einfach sagen, dass eine bestimmte Sprache nie gesprochen werden wird, denn die Dinge ändern sich. Ich habe jetzt viele deutsche Freunde und reise oft nach Deutschland. Aber wir sollten nicht erwarten, dass in den nächsten 20 Jahren irgendetwas Positives für die russische Kultur, die russische Sprache und die russische Literatur in der Ukraine passiert.
Diese Haltung spiegelt sich in der mangelnden Bereitschaft einiger Ukrainer*innen wider, sich mit der russischen Opposition auseinanderzusetzen und mit ihr zusammenzuarbeiten. Dies ist ein heikles Thema, bei dem die ukrainische Zivilgesellschaft gespalten ist. Wie sehen Sie das?
Derzeit sind 99 % der ukrainischen Intellektuellen der Meinung, dass man nicht mit einer Russin oder einem Russen auf einer Bühne stehen sollte, selbst wenn diese(r) gegen Putin ist. In den letzten drei Jahren habe ich zwei öffentliche Veranstaltungen mit Schriftstellenden, Journalistinnen und Journalisten russischer Herkunft durchgeführt. Mikhail Shishkin aus der Schweiz, den ich seit vielen Jahren kenne, und vor einem Jahr in Kanada mit Masha Gessen, die als Kind im Alter von acht Jahren aus Russland in die Vereinigten Staaten emigrierte. Wegen der öffentlichen Veranstaltung mit Masha Gessen wurde ich in der Ukraine ausgeschlossen. Ich weiß also, wie sich das anfühlt.
Ich denke, man sollte nach denjenigen in der russischen Opposition suchen, die wirklich in der Lage sind, die russische Gesellschaft zu beeinflussen. Und man sollte mit ihnen reden. Aber auch hier würden 99% der ukrainischen Intellektuellen sagen, dass dies Verrat ist und es niemals zulassen.
Sie haben erklärt, dass die Ukrainer*innen schon immer eine trotzige Haltung gegenüber der Macht und dem Staat hatten. Das könnte die regelmäßigen Aufstände gegen ihre Herrschenden erklären, nicht zuletzt die beiden jüngsten Revolutionen: die Orange Revolution von 2004-05, die den pro-westlichen Viktor Juschtschenko an die Macht brachte, und den Euromaidan von 2013-14, der den pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch stürzte. Woher kommt das?
Es gibt einen Unterschied in der Mentalität: Für die Russinnen und Russen ist Stabilität wichtiger als Freiheit.
In den 22 Jahren von Putins Herrschaft haben die Russinnen und Russen ihre Freiheiten aufgegeben, um in einer stabilen Gesellschaft zu leben, um passiv zu sein, um sich hohe Gehälter und hohe Einkommen versprechen zu lassen. Für die Ukrainer*innen ist Freiheit wichtiger als Stabilität. Die Ukraine war noch nie ein stabiles Land, mit Ausnahme einiger Jahre in der Sowjetunion.
Und für die Ukrainer*innen ist die politische Freiheit, die politische Meinungsäußerung wichtiger als Stabilität oder Einkommen. Sie können also den Frieden in der Gesellschaft riskieren, indem sie bis zum Schluss für ihre Ideen eintreten, wie es bei der Orangen Revolution und dem Euromaidan der Fall war.
Viele Ihrer Bücher spielen in Zeiten der Krise und des Chaos, wie etwa in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Diese Jahre waren von Armut und der Krise des politischen Systems geprägt – zwei Dinge, die Russland und die Ukraine sowie viele andere Länder des Sowjetblocks gemeinsam hatten – und führten zu der revanchistischen Mentalität, die Putins Regime prägte. Stimmt es, dass die in jenen Jahren aufgestauten Ressentiments eine nationalistische, chauvinistische und antiwestliche Haltung in der russischen Öffentlichkeit geschürt haben? Wenn dies in Russland der Fall war, warum dann nicht auch in der Ukraine?
Russland und die Ukraine haben nach 1995-96 unterschiedliche Wege eingeschlagen. Davor lebten beide in einer Art krimineller Krise: Die soziale Struktur verschwand, die Menschen hatten kein Geld, die Polizei wollte nicht arbeiten und wurde durch die Mafia ersetzt. Wenn man also ein Problem hatte, ging man nicht zur Polizei. Man ging zum örtlichen Mafiaboss, erklärte, was passiert war. Wenn er der Meinung war, dass man im Recht war, würde er versuchen, einem zu helfen.
Aber gleichzeitig war es natürlich auch eine Zeit des wilden Kapitalismus. Die Menschen gingen Risiken ein, um reich zu werden. Ich meine, einige Leute, ehemalige Kommunistinnen und Kommunisten, waren bereits reich, also versuchten sie, auf legalem Wege reich zu werden. In der Sowjetunion gab es den amerikanischen Traum, und jeder wollte einfach nur reich werden. Als die Sowjetunion zusammenbrach, verfolgten die Russinnen und Russen immer noch diesen amerikanischen Traum, während die Ukraine einen europäischen Traum verfolgte. Denn die Menschen dachten, dass Europa grundsätzlich stabil ist und dass wir ein stabiles Land ohne Korruption haben wollen, in dem die Polizei funktioniert und so weiter. Deshalb gab es in der Ukraine auch keine antiwestliche Stimmung. Die Ukraine war bereits im Westen. Viele Menschen in Russland litten unter den neuen Oligarchinnen und Oligarchen. Und dann arbeitete der russisch-orthodoxe Klerus sehr hart daran, anti-westliche und anti-europäische Gefühle zu wecken. Und er hatte Erfolg.
„Als die Sowjetunion zusammenbrach, verfolgten die Russinnen und Russen immer noch diesen amerikanischen Traum, während die Ukraine einen europäischen Traum verfolgte.”
Er schuf eine Art fundamentalistische russisch-orthodoxe Kirche, die vom Staat unterstützt wurde und die wiederum den Staat unterstützte. Die Kirche, die zu Sowjetzeiten mit dem KGB verbunden war, war nun mit dem FSB, seinem direkten Nachfolger, verbunden. Beide haben diese chauvinistische Gesellschaft geschaffen, die den Russinnen und Russen erzählt, dass sie die spirituellsten und moralischsten Menschen sind, während alle anderen außerhalb von Russland schwul, homosexuell, unmoralisch, korrupt usw. sind. Das hatten wir in der Ukraine nicht.
In der Ukraine kann man seine politischen Ansichten nicht einer Masse von Menschen aufzwingen, denn jeder hat seine eigenen Vorstellungen. Es ist eine andere Mentalität.
Als die umfassende Invasion begann, verließen Sie und Ihre Familie Kyiv und zogen nach Uzhgorod. Seitdem reisen Sie von Kyiv aus immer wieder in westliche Länder, um Vorträge und Reden zu halten. Konnten Sie während dieser Zeit weiter schreiben? Und wenn ja, hat sich etwas an Ihrer Herangehensweise an das Schreiben geändert? Haben Sie jemals daran gedacht, Ihre Romane nicht mehr auf Russisch zu schreiben?
Ich habe weitergeschrieben, weil mein englischer Verlag mich gebeten hat, ein drittes dokumentarisches Buch über die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine zu schreiben. Was die russische Sprache betrifft, so habe ich Sachbücher auf Ukrainisch und Englisch geschrieben, aber ich habe mich entschieden, für meine Belletristik beim Russischen zu bleiben, weil es meine Muttersprache ist. Um literarische Texte zu schreiben, bräuchte man viel bessere Sprachkenntnisse als meine Kenntnisse des Ukrainischen. Ich weiß, dass viele ukrainische Intellektuelle mich missbilligten und versuchten, mich zu zwingen, zu sagen, dass ich nie wieder auf Russisch schreiben würde.
Einer der besten ukrainischen Schriftstellenden in russischer Sprache, Wolodymyr Rafeienko, stammt aus Donezk [im russisch besetzten Teil der Ukraine]. Als die russische Armee kam, verlor er seine Heimat und seine Arbeit. Er zog in die Region Kyiv, in das Haus des ukrainischsprachigen Schriftstellers Andriy Bondar in der Nähe von Bucha, wo er während der Besatzung fast von der russischen Armee getötet wurde. Er beschloss daraufhin, nie wieder ein Wort auf Russisch zu schreiben und begann, auf Ukrainisch zu schreiben. Seine ukrainischsprachigen Freundinnen und Freunde redigieren seine Texte auf Ukrainisch. Ich nehme also an, dass er nie wieder zum Russischen zurückkehren wird. Vielleicht würde ich das auch tun, wenn ich die gleichen Erfahrungen wie er gemacht hätte.
Wo findet die ukrainische Gesellschaft die Fähigkeit zum Widerstand, die es den Menschen ermöglicht, ein normales Leben zu führen? Ist es möglich, die Wunden und Traumata des Krieges kollektiv zu bewältigen?
Der Krieg begann im Februar 2014, was bedeutet, dass ukrainische Kinder, die nach diesem Jahr geboren wurden, nie in einer friedlichen Ukraine gelebt haben. Natürlich verschlechterte sich die Lage ab 2022, und seither sind die Kinder daran gewöhnt, in U-Bahn-Stationen und Bunkern zu schlafen, nicht zur Schule zu gehen und nur Online-Unterricht zu nehmen. Ich denke, was die Bildung betrifft, wird die ukrainische Gesellschaft einen hohen Preis für diesen Krieg zahlen. Das gilt auch für die Universitäten. Die Gesellschaft ist definitiv traumatisiert und radikalisiert. Gleichzeitig versuchen die Menschen, so zu leben wie vor dem Krieg. Der Hauptunterschied ist, dass man nicht schlafen kann. Wenn man in einer Großstadt lebt, kann man nachts nicht schlafen, weil von 23 bis 9 Uhr die Sirenen heulen, es gibt regelmäßig Explosionen und die Flugabwehrkanonen gehen los. In Kyiv schlafen wir nicht. Wir gehen regelmäßig auf den Flur, um uns von den Fenstern fernzuhalten. Wenn man die Leute morgens in den Cafés sieht, haben fast alle rote Augen und müde Gesichter. Aber sie versuchen zu lächeln, weil es eine Art Machogehabe gibt. Wenn man jemanden fragt: „Wie geht es dir?“, sagen viele: „Danke, mir geht es gut.“ Aber sie würden Ihnen nicht sagen, wie sie sich wirklich fühlen. Psychologisch ist das sehr anstrengend.
Die Ukraine von heute unterscheidet sich stark von der Ukraine im Jahr 2021, denn bis zu 7 Millionen Einwohner*innen leben als Geflüchtete im Ausland. Mehr als 400.000 ukrainische Kinder besuchen Schulen in anderen europäischen Ländern. Ich glaube nicht, dass viele von ihnen zurückkommen werden, bevor sie ihren Abschluss gemacht haben – wenn sie überhaupt zurückkommen. Wir haben etwa 6 Millionen Binnengeflüchtete, deren Häuser durch russische Bomben und Raketen zerstört wurden. Und wahrscheinlich lebt die Hälfte der Ukraine noch in ihren eigenen Wohnungen und Häusern, so wie wir in Kyiv.
🤝 Dieser Artikel wird im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts Come Together veröffentlicht.
Seit den 1980er Jahren und der Finanzialisierung der Wirtschaft haben uns die Akteure der Finanzwirtschaft gelehrt, dass sich hinter jeder Gesetzeslücke eine kurzfristige Gewinnmöglichkeit verbirgt. All das und mehr diskutieren wir mit unseren Investigativ-Journalisten Stefano Valentino und Giorgio Michalopoulos. Sie haben für Voxeurop die dunklen Seiten der grünen Finanzwelt aufgedeckt und wurden für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet.
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