Ideen Krieg in der Ukraine

Kateryna Mishchenko: Ich glaube an einen gemeinsamen europäischen Sieg in der Ukraine

Neun Jahre nach der Revolution der Würde und ein Jahr nach der umfassenden russischen Invasion wird die Grenze zwischen der Ukraine und der EU immer mehr durch den Tod bestimmt. Für den Frieden, die Gerechtigkeit und die Zukunft Europas ist es unbedingt erforderlich, diese Grenze zu überwinden, meint die ukrainische Schriftstellerin Kateryna Mishchenko.

Veröffentlicht am 2 März 2023 um 13:16
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Vor neun Jahren war der Maidan, der Hauptplatz meiner Heimatstadt Kyiv, voll mit Menschen, die EU-Banner und ukrainische Nationalflaggen trugen. Maidan, oder die Revolution der Würde, war die letzte erfolgreiche demokratische Revolution in Europa. Die Demonstrant*innen haben gewonnen. Sie – wir – haben es geschafft, ein Regime zu stürzen, das schon damals aktiv die russische politische Annexion der Ukraine vorbereitete.

Genau in diesen Tagen, vor neun Jahren, trug das Menschenmeer des Maidan auf seinen Armen und Schultern die Särge der von der Polizei erschossenen Aktivist*innen. Es war eine unermessliche Tragödie, dass Menschen starben, aber der Raum für Trauer wurde sofort reduziert, als die Annexion der Krim erfolgte und es offensichtlich wurde, dass der Kreml einen Krieg gegen die Ukraine, gegen uns, begonnen hatte.

Wir lernten damals, dass das Erreichen des Unmöglichen in Liedern oder Filmen romantisch schön sein kann, in unserer Realität jedoch einen Preis hat, der von Anfang an zu hoch war. Aber der Maidan war immer noch ein Ort des Wandels und ein Bezugspunkt. Das Bild von Menschen, die dort mit ukrainischen und europäischen Flaggen stehen, ist geblieben. Soziales Miteinander und Gemeinschaft, Demokratisierung und verantwortungsvolle Staatsbürgerschaft waren unsere offiziellen Ziele.


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Doch nun versinken diese Bürger, diese Menschen mit Flaggen, im Meer eines Vernichtungskrieges, über dessen Oberfläche nur noch die Flaggen zurückbleiben.

An welchen Orten sehen wir heute unzählige ukrainische Flaggen? – Auf den Friedhöfen unserer Städte und Gemeinden, auf denen pausenlos Beerdigungen stattfinden.

In meinem Land findet derzeit ein Völkermord statt, der als Strafe für die Ukrainer*innen gedacht ist, die auf ihrer eigenen politischen Subjektivität beharrten und immer noch beharren. Gräber mit ukrainischen Flaggen sind ein gutes Beispiel für die putinistische Vorstellung von Konterrevolution. Aus der Sicht des Kremls muss der Wunsch nach Veränderung unterdrückt werden. Der Maidan soll im Krieg ruhen. Der physische Hass Wladimir Putins auf die Ukraine ist nicht nur ethnisch, sondern auch politisch. Die revolutionäre Vision der Zukunft soll begraben werden. Was wir erleben, ist die physische Vernichtung von Leben und Zeit.

Da unsere Militärbehörden über die ukrainischen Verluste schweigen, da sie diese Horrordaten aus strategischen Gründen nicht bekanntgeben, ist der Friedhof mit seinem neu angelegten Flaggenwald der Ort, an dem die konkreten Zahlen erkennbar werden. Und diese Sichtbarkeit hat mit der Wahrheit zu tun, mit der Wahrheit des Todes.


Der physische Hass Wladimir Putins auf die Ukraine ist nicht nur ethnisch, sondern auch politisch. Die revolutionäre Vision der Zukunft soll begraben werden. Was wir erleben, ist die physische Vernichtung von Leben und Zeit


Wie lautet die Wahrheit in Bezug auf das, was heute geschieht? In Europa gibt es ein Land, in dem der Tod von Hunderten von Menschen jeden Tag als erträglich gilt. Die Lebenden dieses Landes – wenn sie nicht männlich und zwischen 18 und 60 Jahre alt sind und nicht unter russischer Besatzung leben – können die Grenzen frei passieren. Sie werden von anderen europäischen Staaten akzeptiert. Gleichzeitig konzentriert sich der Tod mehr und mehr auf das Gebiet der Ukraine, innerhalb ihrer Grenzen.

In den letzten neun Jahren, noch vor der umfassenden russischen Invasion, hörte ich oft, dass die Ukraine als der Hinterhof Europas bezeichnet wurde. Heute gleicht dieser Hinterhof mehr und mehr einem Friedhof, auf dem der Krieg selbst als Totengräber fungiert – Raketen und Granaten bilden riesige Gruben, die zu Gräbern für die Ukrainer werden. Dieser Friedhof ist mit wunderschönen Blumen bepflanzt, die für Unbezwingbarkeit, Mut und Widerstandskraft stehen. Für die Hoffnung, dass die Ukraine ein friedlicher Garten wird, dass man alles, was zerstört wurde, wieder aufbaut. Diese Blumen sollen Hoffnung geben – ein Versprechen, dass nach all dem Grauen Leben möglich ist.

So wie im 20. Jahrhundert Friedhöfe zu Orten der Verdrängung des Todes wurden, versteckt sowohl von den zentralen Orten des städtischen Raums als auch von unserem Alltag, wird mein Land zu einem verdrängten Friedhof – obwohl es auch ein Schlachtfeld ist, das durch eine sehr klare Grenze umrandet bleiben muss. Und der Ukraine in diesem Zusammenhang zu helfen, bedeutet vielmehr, diese Grenze zu bewahren, den Status dieses Raumes zu bewahren.

Vor ein paar Wochen habe ich die Grenze zwischen der Ukraine und der Europäischen Union überquert. Derzeit gibt es keine schnellen Verbindungen in die oder aus der Ukraine. Die Reise dauert sehr lange – eine lange Reise mit ihrer eigenen Logik: Die mentale Transformation des Menschen braucht Zeit. Wer vom Frieden zum Krieg oder vom Krieg zum Frieden gelangen will, muss einen bestimmten Prozess durchlaufen. Um aus der beschleunigten Zeit herauszukommen, in der der Countdown nicht Sekunden, sondern Menschenleben zählt und hinein in eine Zeit, in der es Raum zum Nachdenken und Diskutieren gibt und in der man manchmal einfach nur ein paar Worte verlieren darf. Und vor allem, wo Zeit für Entscheidungen ist.

Es handelt sich um eine mentale Metamorphose, die nicht einfach so passiert. Sie erschüttert, erzeugt Unruhe, Ängste, stört den Schlaf und raubt einem das elementarste Vertrauen in den Boden unter den Füßen, selbst wenn dieser Boden nicht mehr von Granaten und Grabschaufeln aufgewühlt wird.

Es ähnelt einer psychischen Störung, Borderline, bei der man sich im Grenzbereich bewegt. Ich denke, dass die Grenze zwischen der Ukraine und Europa sogar überhaupt nicht physisch überschritten werden muss, damit es so weit kommt. Sie ist so tief und elementar geworden, dass sich der Grenzbereich auch in weiter Entfernung von der Grenze selbst bemerkbar macht. Heute muss man nicht unbedingt selbst die ukrainische Erfahrung machen, um die Unbeständigkeit der europäischen Gegenwart zu spüren. Sie ist derzeit mit einer großen Katastrophe beschäftigt, die man noch nicht als Realität zulassen will.

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