Ein Demonstrant vor der amerikanischen Botschaft in Kairo, wo es zur Kontrontation mit der Polizei kam. Ägypten, 13. September 2012.

„Arabischer Winter“ lässt EU erstarren

Die Proteste gegen den Westen in der arabischen Welt und die Richtung, die der Arabische Frühling in mehreren Staaten einschlägt, sollten Europa zum Nachdenken anregen. Der in einer wirtschaftlichen und institutionellen Nabelschau vertiefte Alte Kontinent geht jedoch seinen Pflichten gegenüber dem Mittelmeerraum lieber aus dem Weg und stützt sich auf die völlig ratlosen USA.

Veröffentlicht am 19 September 2012 um 15:42
Ein Demonstrant vor der amerikanischen Botschaft in Kairo, wo es zur Kontrontation mit der Polizei kam. Ägypten, 13. September 2012.

Dem griechischen Schriftsteller Pétros Márkaris zufolge erlebt Europa eine sonderbare, heimtückische Epoche: von seinen Krisen sprechen nur Ökonomen und Zentralbanker.Mit dem Ergebnis, dass die Einheitswährung zum Wesen selbst der Union geworden ist. Sie ist kein Instrument mehr, sondern die Daseinsberechtigung, der eigentliche Zweck. „Die Einheit der Union wurde durch die Einheit des Euroraums ersetzt. Aus diesem Grund bleibt die Debatte so oberflächlich wie die meisten europäischen Regierungschefs und so eindimensional wie der traditionelle Diskurs der Ökonomen.“ In Ermangelung einer Weltanschauung besitzt Europa nur Interessen, keine Leidenschaften, und ist dazu verurteilt, sich in aristokratische und plebejische Schuldner aufzuspalten. „Eine Art europäischer Bürgerkrieg steht vor der Tür.“

Wie ein überraschender Schuss zerreißt das neue Beben in den moslemischen Ländern die Stille. Der muslimische Fundamentalismus rüstet zu einer groß angelegten Offensive gegen den Westen und seine abscheulichen Videos. Der Mittelmeerraum trieft vor Gewalt und Europa, das ganz mit sich selbst beschäftigt ist, entdeckt plötzlich, dass vor seinen Toren Bomben fallen. Das über den Arabischen Frühling erfreute Europa wird vom jähen Einbruch des Winters aus dem Schlaf gerissen. Es glaubte, Befreiung bedeute Freiheit, und stellt nun fest, dass Revolutionen immer fundamentalistische Funken vorangehen, bevor sie stabile Institutionen und Konstitutionen schaffen. Wie Caliban in Shakespeares „Der Sturm“ schreien die Demonstranten:

„Ihr lehrtet Sprache mir, und mein Gewinn

Ist, daß ich weiß zu fluchen. Hol' die Pest Euch

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Kein Handeln ohne eine gemeinsame Außenpolitik

Europa könnte etwas sagen und unternehmen, wenn es nicht lieber diese Aufgabe Amerika zuschieben würde: nicht nur in Afghanistan, wo viele Europäer in einem verlorenen Krieg kämpfen, nicht nur im Iran, sondern auch im Mittelmeerraum. Die Flüchtlinge aus Nordafrika treibt es zu uns, wenn sie nicht vorher im Meer ertrinken und zwar so häufig, dass man uns eigentlich der vorsätzlichen Gleichgültigkeit verdächtigen könnte. Europa könnte agieren, wenn es eine eigene Außenpolitik hätte, die das zustande bringt, was Amerika nicht kann: der Ereignisse Herr werden, neue Prioritäten setzen, eine Perspektive versprechen, die auf organisierter Zusammenarbeit beruht und nicht nur auf Lippenbekenntnissen und Kriegshandlungen.

Die Erwähnung einer europäischen Föderation bricht kein Tabu mehr. Dabei beziehen wir uns allerdings nur auf die Währung, oder deuten damit vage an, dass wir so zum Herrn unseres Schicksals werden. Aber mit welcher Politik, die über die Innenpolitik hinausgeht, wollen wir Europa aufbauen? Mit welcher Einstellung zur Welt, zu den Beziehungen zwischen dem Westen und dem Islam, dem Iran, Israel und Palästina, dem Konflikt zwischen und innerhalb den Religionen?

Der Arabische Winter ist mehr als nur ein schweres Beben für die Union, er zeigt unser wahres Gesicht. Wir sind ein Europa ohne Ideen und Ressourcen, ohne gemeinsame Regierung, mit der wir den weltweiten Krisen die Stirn bieten können. Das erklärt unser Schweigen und das törichte Gestotter der EU-Vertreter. Es ist schwierig zu sagen, wozu Catherine Ashton dient, die sich mit dem pompösen Titel Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik schmückt. Niemand weiß, was die 27 Außenminister denken, diese hybriden Statisten einer Union aus Staaten, die nicht mehr souverän und noch nicht föderal sind. Ganz abgesehen von den Bürgern, die praktisch nichts mehr steuern, weder die Wirtschaft, noch den Mittelmeerraum, noch die von der Union niemals thematisierten Kriege.

Für eine euro-mediterrane Energiegemeinschaft

Aufgrund seiner Geschichte (eine Geschichte der Demokratie und der nach jahrhundertelangen Religions- und Ideologiekriegen dank der Bündelung der eigenen Kräfte wiederhergestellten Staaten) verfügt Europa über die intellektuellen und politischen Instrumente, um den labilen Arabischen Frühling und die Länder zu unterstützen, die versuchen, die unbestrittene Macht des Staates und die Demokratie auf einen Nenner zu bringen. Europa bleibt für viele – in Libyen, Ägypten, Tunesien – die die Demokratie entweder als Geisel der Muslimbrüder oder von den fundamentalistischen Salafiten bedroht sehen, ein säkularer Maßstab.

In der Nachkriegszeit kombinierte Jean Monnet die Interessen und die Leidenschaften in der Montanunion. Er veranlasste die Zusammenlegung der Ressourcen (Kohle und Stahl), die Deutschland und Frankreich entzweit hatten. Das könnte zwischen Europa und dem südlichen Teil des Mittelmeerraums geschehen, dank einer Gemeinschaft, die nicht auf Kohle und Stahl aufbaut, aber auf Energie (oder in Zukunft auf Wasser).

Ein ähnlicher Plan wurde im Oktober 2011 von den beiden Ökonomen und Verfechtern einer Föderation Alfonso Iozzo und Antonio Mosconi vorgeschlagen. Er beruht auf der Idee, dass Washington nicht mehr in der Lage ist, im Mittelmeerraum und im Nahen Osten Stabilität und Demokratie zu garantieren. Daher die Notwendigkeit einer euro-mediterranen Energiegemeinschaft zur Nutzung einer potenziellen Energie, die ohne finanzielle und technische Hilfe aus Europa kaum möglich ist. Man könnte sagen, das wäre nur eine Interessensgemeinschaft. Das wird auch von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl behauptet. In Wirklichkeit ist die politische Ambition aber sehr stark. Es geht darum, das hegemonische durch ein paritätisches Modell zu ersetzen und den Mitgliedern genau definierte demokratische Pflichten aufzuerlegen, deren Erfüllung von einem gemeinsamen Parlament geprüft wird.

Demokratie lässt sich nicht durch Krieg exportieren

Die USA können im Mittelmeerraum nur abgelöst werden, wenn zur Kenntnis genommen wird, dass dieses Modell nicht funktioniert. Es wollte Demokratie mit Kriegen exportieren, und hat stattdessen lebensunfähige Staaten geschaffen und autoritäre Regimes gestärkt. Die Demokratien (Israel eingeschlossen) haben jahrelang die Fundamentalisten (die Taliban gegen die UdSSR, den Hamas gegen die Palästinensische Befreiungsorganisation OLP) unterstützt und ignorieren bewusst eine der wichtigsten Quellen der heutigen Krisen: Saudi Arabien, den Financier der Salafiten, die die neugeborenen, noch nicht überlebensfähigen arabischen Demokratien systematisch untergraben.

Europa muss dem Mittelmeerraum Hoffnung verleihen, dessen Demokratien verteidigen. Wenn die Union eine Regierung erhält, dann hat sie eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame Außenpolitik. Nur in diesem Fall kann der Schuss, den wir in den arabischen Ländern hören, ein Europa aufwecken, dessen Herz, wie in Eugenio Montales Gedicht [Mia Vita], jede Bewegung für schändlich hält und sich nur selten erschüttern lässt [Il cuore che ogni moto tiene a vile raro è squassato da trasalimenti].

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