Der serbische Premierminister Ivica Dačić

Auf halbem Wege

Anfang nächsten Jahres beginnen für Belgrad die EU-Beitrittsverhandlungen. Noch stößt der politische Wille zum Beitritt in der Gesellschaft nicht nur auf Zustimmung. Doch die Wirtschaft könnte als eines der stärksten Argumente dienen.

Veröffentlicht am 7 November 2013 um 17:07
Der serbische Premierminister Ivica Dačić

Als die höflichen Gespräche im Speisesaal des Amtssitzes der Regierung ins Stocken geraten, gibt ein Mann den Musikern ein Zeichen. Er schnappt sich das Mikrophon und stimmt ein paar traditionelle Zigeunerlieder an. Beim Sänger handelt es sich um niemand anderen als den Ministerpräsidenten Ivica Dačić höchstpersönlich. Eine Show, welche er regelmäßig seinen Gästen bietet, seit er im vergangenen Jahr in Brüssel, während eines Forums zur Förderung ausländischer Investitionen in Serbien, das Orchester des Filmregisseurs Emir Kusturica sängerisch unterstützt hat.

Ivica Dačić wird noch öfter singen können. Derzeit geben sich die ausländischen Delegationen die Klinke in die Hand, denn im Januar beginnen die Verhandlungen über den EU-Beitritt des Landes. Ein steiniger Weg kündigt sich ein. Gemäß den neuen Regelungen kann nämlich der EU-Beitritt in jedem Mitgliedsland einem Referendum unterliegen. Für ein Land, das ein derart düsteres Image hat wie Serbien, ist das alles andere als eine Formsache. Fünfzehn Jahre nach Ende des Kriegs, welcher zur Auflösung Jugoslawiens führte, denken die Menschen bei Serbien weiterhin an die Kriegsverbrechen in Bosnien oder im Kosovo, sowie an die Arroganz des Regimes von Slobodan Milošević.

Schmerzhafte Zugeständnisse

Heute sind „Slobos“ Erben wieder an der Macht, doch sie wissen, dass sie einen Schlussstrich ziehen müssen. [[Regierungschef Dačić, 47, war Ende der Neunzigerjahre Sprecher von Miloševićs Partei.]] Und dennoch war er es, der als Geste der Versöhnung nach Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, reiste. Er war es auch, der als erster Politiker seines Landes dem ehemaligen kosovarischen Rebellenführer Hashim Thaçi die Hand reichte, jenem Mann, der heute den Kosovo regiert, ein Land, das Serbien nicht anerkennen will, sich aber zu Gesprächen bereit erklärt hat, um sich den Weg in die Europäische Union zu ebnen. Im vergangenen April unterzeichneten die beiden Männer ein Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina. Der umstrittenste Teil dabei betrifft den Verzicht Belgrads auf die Finanzierung von Parallelstrukturen der serbischen Minderheit im Kosovo zugunsten einer Gemeinschaft der serbischen Gemeinden. Eine Art Selbstverwaltung innerhalb der kosovarischen Institutionen, welche ihren Namen nicht nennen mag.

Die Kosovo-Serben haben am [3. November], erstmals unter Zuspruch aus Belgrad, an den Kommunalwahlen in ganz Kosovo teilgenommen. Trotz der Zwischenfälle in Wahllokalen im Norden der geteilten Stadt Mitrovica, wo das Votum unterbrochen werden musste, scheint die Europäische Union anzuerkennen, dass Belgrad insgesamt mitgespielt hat. „Es ist sichtbar geworden, dass Belgrad im Rahmen seiner Möglichkeiten alles getan hat, damit die Wahlen ordentlich organisiert werden und die Wahlbeteiligung eine solide ist“, erklärte der schwedische Außenminister Carl Bildt.

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In Serbien ging der Wunsch nach Europa stets Hand in Hand mit der Notwendigkeit, die Europa darstellt. Sogar ehemalige Nationalisten wie der stellvertretende Ministerpräsident Aleksandar Vučić, Chef der Serbischen Radikalen Partei (SRS) sind heute überzeugte Pro-Europäer. Der 43-jährige gehörte seinerzeit ebenfalls der Regierung von Milošević an. „Rund 70 Prozent unserer Mitglieder sind nun für Europa“, stellt er fest und gibt im selben Atemzug zu, dass es 2012, als seine Partei in Koalition mit Dačićs Sozialisten die Regierungsgeschäfte übernahm, höchstens 50 Prozent gewesen sind.

Fortschritt auf Raten

Offen bleibt allerdings, ob dieser Sinneswandel sich auch in einem Wandel der politischen Kultur niederschlagen wird. Das Verbot der Gay Pride im vergangenen Monat unter dem Vorwand, dass die Demonstranten von Extremisten angegriffen werden könnten, zeigt die Grenzen der Normalisierung auf. „Nichts ist geklärt, alles ist nur auf Eis gelegt. Serbien ähnelt einem Land, das jeden Abend seine Dosis Beruhigungsmittel verabreicht bekommt“, erklärt mit Bitterkeit Radomir Diklic, einer der Mitbegründer der unabhängigen Presseagentur Beta.

[[Das Serbien von heute will beweisen, dass es Europa etwas zu bieten hat.]] Und dieses Etwas sind nicht etwa billige Arbeitskräfte, wie jene aus Bulgarien oder Rumänien, sondern hochqualifizierte Fachkräfte, die an den Hochschulen des Landes ausgebildet wurden, welche im Shanghai-Ranking relativ gut abschneiden. So ist ist kein Zufall, dass Microsoft in der serbischen Hauptstadt ein Forschungszentrum mit 150 Mitarbeiter eröffnet hat, allesamt erstklassige Mathematiker, Ingenieure oder Informatiker. Das amerikanische Unternehmen Ball Packaging wiederum hat jüngst eine automatisierte Produktionsanlage für Dosengetränke eingeweiht. Dort werden Millionen Dosen hergestellt und bis nach Russland geliefert, mit dem Serbien ein Freihandelsabkommen unterzeichnet hat. Geleitet wird die Produktionsstätte von einem jungen serbischen Ingenieur.

Und zu guter Letzt hat auch der norwegische Telekom-Konzern Telenor beschlossen, massiv in Belgrad zu investieren, da der Firma dort „hochqualifizierte Fachkräfte“ zu Verfügung stehen. „Die Regierung will glauben machen, dass Serbien ein modernes Land geworden sei“, sagt Radomir Diklic, „doch Belgrad ist nicht gleich Serbien. Der Rest der Wirtschaft geht zugrunde. Schließt eine Fabrik, gehen zuerst die Ingenieure, danach die Lehrkräfte. Und die Schulen verlieren an Qualität.”

Kosovo

Der Frieden mit Belgrad ist der Mafia ein Dorn im Auge

„Die Normalisierung der Beziehungen zwischen der serbischen Minderheit im Kosovo und der Regierung in Priština stört vor allem die Mafia“, schreibt die Prager Tageszeitung Lidové noviny. Für das Blatt habe die organisierte Kriminalität „aus Nordkosovo ein Eldorado ohne Recht und Gesetz gemacht, wo am Schwarzhandel zwischen Serbien und Kosovo verdient wird“. Die Schwarzhändler, die meist zu den Nationalisten zählen, welche jegliche Verhandlungen über den Status des Kosovo ablehnen, zögen Profit daraus, dass serbische Produkte, welche in die serbischen Regionen des Kosovo importiert werden, keiner Mehrwertsteuer unterliegen. Anschließend würden diese Produkte in andere Gegenden des Landes weiterverkauft, erklärt Lidové noviny und kommentiert:

Im Nordkosovo ist der Patriotismus — wie überall im Balkan — zu einem Vorwand geworden, um die wirtschaftlichen Interessen der organisierten Kriminalität zu wahren“.

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