Nachrichten Soziale Gerechtigkeit in Europa

„Aufschwung kommt nicht bei allen Menschen an“

Ein Gespräch mit den Autoren des Social Justice Index 2016 der Bertelsmann Stiftung über wachsende soziale Teilhabechancen in Europa und warum viele Menschen trotz Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt von Armut bedroht sind.

Veröffentlicht am 18 November 2016 um 11:49

Herr Schraad-Tischler, Herr Schiller, der neue Social Justice Index der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass die soziale Gerechtigkeit in der Europäischen Union insgesamt leicht wächst. Wird Europa ein gerechterer Ort?
Daniel Schraad-Tischler: Zum Teil kann man das sagen. In unserem diesjährigen Social Justice Index sehen wir, dass das Maß sozialer Gerechtigkeit in der Europäischen Union in zwei aufeinander folgenden Jahren nicht weiter abgenommen hat. Stattdessen zeigen sich leichte Verbesserungen. Der Negativtrend der letzten Jahre scheint in der Tat gestoppt zu sein. Das ist erst einmal eine sehr gute Nachricht. Aber gleichzeitig beobachten wir einige sehr problematische Entwicklungen.
Welche sind das?
Daniel Schraad-Tischler: In nur fünf der 28 EU-Länder – Deutschland, Großbritannien, Luxemburg, Polen und Tschechien – ist mit Blick auf die soziale Teilhabe bisher das Niveau vor der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 erreicht. Daneben gibt es weiterhin ein enormes Gefälle zwischen Nord- und Südeuropa. Es gibt zwar auch in den südeuropäischen Krisenstaaten wie Spanien erste Hoffnungsschimmer, dass die Länder wirtschaftlich Boden unter den Füßen bekommen. Aber mit Blick auf die soziale Situation ist es nach wie vor für viele Menschen katastrophal, gerade für die jungen. Das gleiche gilt für Griechenland. In Italien hat sich zumindest der Arbeitsmarkt etwas positiver entwickelt. Aber insgesamt ist die Kluft zwischen Nord- und Südeuropa nach wie vor riesig.
Christof Schiller: Es gibt außerdem einen großen Graben zwischen den Generationen. Jüngere Menschen haben weiterhin häufig schlechtere Teilhabechancen als ältere. Das Armutsrisiko ist bei den Älteren in Europa in den letzten Jahren gesunken, während es bei jungen Leuten gestiegen ist. Das ist sehr bedenklich. Die Jugendarbeitslosigkeit, gerade in Südeuropa, ist mittlerweile zu einem strukturellen Problem geworden. Es gibt aber auch Ausnahmen von diesem allgemeinen Trend wie in den baltischen Staaten. Hier hat das überdurchschnittliche Armutsrisiko unter Senioren zuletzt wieder stark zugenommen, während das Armutsrisiko für Jugendliche deutlich geringer und zuletzt rückläufig war. Auch in Deutschland stieg das Armutsrisiko unter Senioren zuletzt wieder leicht an.
Daniel Schraad-Tischler: Darüber hinaus beobachten wir in den vergangenen Jahren in den meisten europäischen Ländern, dass auch unter Vollzeitbeschäftigten das Armutsrisiko steigt. Der Jobmotor brummt, dennoch ist das Armutsrisiko in Vollzeitbeschäftigung gewachsen. Das Wachstum kommt einfach nicht bei allen Menschen an. Das dürfte eigentlich nicht sein. Es zeigt, dass die Arbeitsmärkte gespalten sind und Menschen im Niedriglohnsektor in den letzten Jahren stärker abgehängt wurden. Wir können noch nicht sagen, ob das ein langfristiger Trend ist, weil beispielsweise in Deutschland die Auswirkungen des Mindestlohns noch nicht in Gänze abzusehen sind. Aber allein die Tendenz der letzten Jahre ist sehr bedenklich.

Daniel Schraad-Tischler: Inwiefern wir bei der Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit in Europa eine echte stabile Trendumkehr sehen oder doch nur ein Strohfeuer, das eventuell verpufft, sobald die Konjunktur schwächer wird, ist zu diesem Zeitpunkt schwer zu sagen. Auf den Arbeitsmärkten sieht man in Europa insgesamt leichte Verbesserungen. Wenn dieser Trend anhalten sollte, spricht einiges dafür, dass auch das Maß sozialer Gerechtigkeit weiter zunimmt. Aber letztendlich ist der wirtschaftliche Aufschwung in vielen europäischen Ländern sehr schwach und kann durch externe Schocks wie eine neue Bankenkrise schnell einbrechen.
In welchen Ländern in Europa sehen sie bei der sozialen Teilhabe derzeit die größten Probleme?
Christof Schiller: Einer der größten Verlierer im diesjährigen Vergleich ist Spanien, besonders weil das Land das große Problem der Generationengerechtigkeit immer noch nicht angegangen hat. Rumänien und Bulgarien wiederum schneiden seit Jahren kontinuierlich schlecht ab. Das sind keine neuen Verlierer in der diesjährigen Erhebung, aber man sieht dort nur zaghafte Verbesserungen.
Daniel Schraad-Tischler: Auch in der Spitzengruppe gibt es Länder, die sich kontinuierlich verschlechtern, besonders am Arbeitsmarkt. Finnland ist immer noch an zweiter Stelle, aber im relativen Vergleich hat sich die Situation dort verschlechtert. Das Land hat eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und Probleme in der Integrationspolitik. Besonders die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt funktioniert oft nicht. Schweden ist im internationalen Vergleich zwar immer noch eines der erfolgreichsten Länder aber auch dort haben Menschen mit Migrationshintergrund deutlich schlechtere Teilhabechancen.
Welche Länder schneiden bei den sozialen Teilhabechancen am Besten ab?
Christof Schiller: Das Nordische Modell ist in Europa immer noch das erfolgreichste, auch wenn es zuletzt einige Kratzer bekommen hat. Der Abstand zu den folgenden Ländern wie der Tschechischen Republik, den Niederlanden, Österreich und Deutschland bleibt jedoch groß. Ob es auf Dauer das Maß aller Dinge in Europa bleibt, wird sich zeigen. Gerade auf dem Arbeitsmarkt schauen die nordeuropäischen Staaten mittlerweile auf Deutschland. Insgesamt schöpft Deutschland sein Potential aber nicht aus. Gemessen an der Wirtschaftskraft müsste das Land in der Lage sein, die Wohlstandsgewinne besser in der Gesellschaft zu verteilen. Auch bei der sozialen Mobilität sollten wir noch stärkere Fortschritte sehen.
Welche Rolle spielt die Flüchtlingskrise für die Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit in Europa?
Christof Schiller: Das Thema Flüchtlingsintegration hat zweifelsohne zu einer Polarisierung in der Politik beigetragen. Verteilungskonflikte werden immer stärker von populistischen Politikern und Parteien instrumentalisiert. Inwiefern sich der Flüchtlingsstrom auf den Zustand der sozialen Gerechtigkeit in Europa auswirken wird, lässt sich noch nicht vollständig absehen. Die Frage des sozialen Zusammenhalts, zumindest so viel ist gewiss, wird aber die zentrale Schicksalsfrage für Europa in den kommenden Jahren werden.
Wie schätzen Sie die künftige Entwicklung der sozialen Teilhabechancen in Europa ein?
Daniel Schraad-Tischler: Ich schaue optimistischer in die Zukunft als vor drei Jahren. In vielen Ländern sieht es immer noch dramatisch aus, aber es gibt begründete Anzeichen der Hoffnung. Wir sehen Erfolgsgeschichten wie Irland, Tschechien oder Polen. Auch Italien scheint auf einem guten Weg zu sein. Dort sind in den letzten Jahren mit den Reformen der Regierung von Matteo Renzi die verkrusteten Arbeitsmarktstrukturen angepackt worden. Hier zeigt sich aber eine generelle Problematik mit Blick auf soziale Gerechtigkeit: Man muss oft 10 bis 15 Jahre warten, um zu erkennen, ob bestimmte Strukturreformen am Ende positiv wirken. Wenn wir auf Deutschland schauen, basieren viele der jüngsten Wirtschafts- und Beschäftigungserfolge auf Strukturreformen, die man Anfang der 2000er-Jahre angegangen hat. Man kann zur Agenda 2010 stehen wie man will, aber sie hat in Deutschland die Strukturen verändert und an vielen Stellen positive Effekte gehabt. Ich würde vermuten, dass die Reformen, die man in Italien umgesetzt hat, dazu führen werden, dass der momentan desaströse Arbeitsmarkt, gerade für jüngere Menschen, in einem Jahrzehnt bessere Chancen bietet.
Daniel Schraad-Tischler ist Senior Expert bei der Bertelsmann Stiftung. Er leitet dort das Sustainable Governance Indicators Projekt. Er ist Autor des Social Justice Index 2016, der von der Bertelsmann Stiftung herausgegeben wird.
Christof Schiller arbeitet als Projektmanager für die Sustainable Governance Indicators. Er ist ebenfalls Autor des Social Justice Index 2016, der von der Bertelsmann Stiftung herausgegeben wird.

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