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Rechtsextreme in Belgien: In Flandern stark, in der Wallonie schwach

Der Erfolg der extremen Rechten spiegelt die Spaltung Belgiens wider: In Flandern ist sie seit etwa dreißig Jahren stark verankert und weiter auf dem Vormarsch. Im französischsprachigen Süden dagegen wurden die Rechtsextremen nach anfänglichen Erfolgen dank einer breiten sozialen, medialen und politischen Mobilmachung erfolgreich bekämpft.

Veröffentlicht am 23 Mai 2024 um 09:54
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1984 entdeckten die Franzosen im Fernsehen Jean-Marie Le Pen, den damaligen Vorsitzenden des Front National, einer rechtsextremen Partei mit wachsender Popularität. Diese Begeisterung begleitete von da an den unaufhaltsamen Aufstieg der radikalen Bewegung und beschränkte sich nicht auf die Grenzen des Hexagons. Manche nennen das den „Le-Pen-Effekt“.

In Belgien führte dieser Moment, in dem das traditionelle politische Gleichgewicht kippte, zu einem Wiederaufleben der faschistischen Bewegung der Vorkriegszeit. Die radikale Rechte etablierte sich im Königreich mit dem Vlaams Blok (VB, seit 2004 Vlaams Belang). Gegründet wurde diese Partei 1978 von politischen Gruppierungen, die aus der Kollaboration hervorgegangen waren. Der VB entwickelte sich zu einer der stärksten neofaschistischen Kräfte in Europa.

Auf der französischsprachigen Seite entstand nach dem „Le-Pen-Effekt“ der belgische Front National (FN), der zwischen 1988 und 2003 schnell einen großen Teil der „Proteststimmen“ auf sich vereinigte. Da die Partei jedoch intern durch Bruderkonflikte gespalten war, konnte sie sich nicht etablieren. Ihre Wahlergebnisse kamen dennoch denen der flämischen VB und des französischen FN nahe, insbesondere in den Brüsseler Gemeinden Anderlecht und Molenbeek sowie in der Provinz Hennegau (über eine Million Einwohner) und dort vor allem in Charleroi.


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Heute ist die VB die größte Partei in Flandern sowie unter den flämischen Gruppierungen in Brüssel, wo sie die Szene der Ultranationalisten dominiert. In Wallonien ist aus dem FN, der ab 2007 in verschiedene Clans gespalten war, vor sieben Jahren die neue Partei AGIR hervorgegangen.  Sie ist die einzige wirklich strukturierte und effiziente Partei unter den wallonischen Nationalisten. In ihren Reihen befinden sich die letzten beiden frankophonen Gemeinderäte der extremen Rechten. Die restlichen Vertreter der extremen Rechten bewegen sich in mikroskopisch kleinen Gruppen, die höchstens aus fünf bis zehn Aktivisten bestehen.

Seit 2021 hat sich ein Neuling in der Szene - vor allem im Internet - bemerkbar gemacht. Es handelt sich um „Chez Nous“ (CN), die für sich in Anspruch nimmt, „die einzige patriotische Partei in Wallonien“ zu sein. Sie wurde aus dem Nichts gegründet und erhält massive Unterstützung von der flämischen VB und Marine Le Pens Rassemblement National. Chez Nous will bei den Regional- und Bundesparlamentswahlen am 9. Juni 2024, die zur gleichen Zeit wie die EU-Wahlen stattfinden werden, erstmals offiziell in Erscheinung treten. Dafür war die Partei gezwungen, ein Wahlbündnis mit AGIR zu schließen. Da AGIR vor allem in der Region Hennegau verankert ist, dominiert sie dort die Wahllisten.

Die kommenden Wahlen werden für die extreme Rechte in Wallonien entscheidend sein. Sie werden entweder mit ein oder zwei gewählten Vertretern durchkommen oder aber wieder in Vergessenheit geraten. Aber wie lässt sich diese widersprüchliche Situation im Vergleich zu Flandern und dem Rest Europas erklären? 

Antifaschistische Tradition

Bei ihrem Aufstieg sah sich die frankophone extreme Rechte mit einer erbitterten Opposition konfrontiert. Sowohl im Süden als auch im Norden des Landes reicht die Geschichte des Antifaschismus bis in die 1920er und 1930er-Jahre zurück. Arbeitermilizen lieferten sich damals Straßenkämpfe gegen die Faschisten und Nationalsozialisten.

Trotzdem waren die rechtsextreme Partei Rex und die Flämische Nationale Liga (VNV) bei den Wahlen von 1936 sehr erfolgreich, bevor sie einige Jahre später wieder in der Versenkung verschwanden. Der belgische Widerstand bescherte den deutschen Besatzern schwere Niederlagen und nach der Befreiung wurden die „Kollaborateure“ abgestraft, sodass die wenigen verbleibenden Vertreter dieser Rechten gezwungen waren, unter den wachsamen Augen der Kulturwelt, der Gewerkschaften und der Vereine im Schatten zu agieren. 

1984 kam Jean-Marie Le Pen nach Brüssel, um bei der Gründung eines belgischen FN zu helfen. Die Antifaschisten mobilisierten sich dagegen im ganzen Land und Zehntausende gingen auf die Straße. Die demokratischen Parteien errichteten einen „Cordon sanitaire”, um die freiheitsfeindlichen Formationen zu isolieren, was deren Entwicklung erschwerte. Der VB konnte dennoch durch die Maschen schlüpfen, unter anderem dank der Christdemokraten und Flämischen Christen (Christen-Democratisch en Vlaams, CVP). In Brüssel und Wallonien dagegen war der Damm gegen die extreme Rechte dank eines frontalen Kampfes, der meist von radikalen politischen und gewerkschaftlichen Linken organisiert wurde, solide. 

Antifaschistische Fronten (FAF) verteilten sich über das ganze Land und schlossen sich zusammen, um den Vormarsch der extremen Rechten an den Wahlurnen und im öffentlichen Raum zu bremsen. Andere Organisationen wie die Bewegung gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (MRAX), die Menschenrechtsliga (LDH) oder das Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung leiteten die ersten rechtlichen Schritte gegen die extreme Rechte ein. 

Seitens der französischsprachigen Presse wurde ebenfalls ein medialer „Schutzwall” errichtet, was 175 732 Wallonen und Brüsseler jedoch nicht davon abhielt, den Gründungsvorsitzenden des belgischen FN, Daniel Féret, ins Europaparlament zu wählen.


Die kommenden Wahlen werden für die extreme Rechte in Wallonien entscheidend sein. Sie werden entweder mit ein oder zwei gewählten Vertretern durchkommen oder aber wieder in Vergessenheit geraten


In den 1970er-Jahren organisierte sich auch der Kampf gegen die extreme Rechte in Flandern. 1974 gründeten Aktivisten in Antwerpen – eine Hochburg der Rechtsextremen – die Antifaschistische Front (AFF). Diese veranstaltete Gegendemonstrationen zu den Aufmärschen der paramilitärischen Neonazi-Gruppe Vlaamse militanten orde (VMO). In den folgenden Jahren ließ sich die AFF in anderen Städten Flanderns nieder, während ein antifaschistisch inspirierter flämischer Journalismus aufgebaut wurde, der – manchmal in Kontakt mit der AFF – die niederländischsprachigen Leser über die Gefahren des VB informierte.In den 1970er-Jahren organisierte sich auch der Kampf gegen die extreme Rechte in Flandern.

1974 gründeten Aktivisten in Antwerpen – eine Hochburg der Rechtsextremen – die Antifaschistische Front (AFF). Diese veranstaltete Gegendemonstrationen zu den Aufmärschen der paramilitärischen Neonazi-Gruppe Vlaamse militanten orde (VMO). In den folgenden Jahren ließ sich die AFF in anderen Städten Flanderns nieder, während ein antifaschistisch inspirierter flämischer Journalismus aufgebaut wurde, der - manchmal in Kontakt mit der AFF - die niederländischsprachigen Leser über die Gefahren des VB informierte.

Der Widerstand geht weiter 

In Flandern werden auch heute noch linke Organisationen gegründet, vor allem auf Initiative von Intellektuellen, Akademikern und Künstlern. 2014 entstand die Bürgerbewegung „Hart boven Hard” - „Das Herz auf der Hand“ gegen die Sparmaßnahmen der damaligen liberalen Regierung. 

In Flandern haben die meisten Widerstandsorganisationen gegen die extreme Rechte schon immer mit der niederländischsprachigen Sektion der Liga für Menschenrechte zusammengearbeitet. Zusammen mit dem Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung gelang es dieser 2004, den Vlaams Blok wegen Rassismus zu verurteilen.

Um ihre Auflösung zu verhindern, musste die rechtsextreme Partei ihren Namen in Vlaams Belang ändern. Die meisten flämischen und französischsprachigen Organisationen sind auch 2024 noch aktiv; viele von ihnen sind in der „Koalition 8. Mai“ - zu Ehren des Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs - zusammengeschlossen.

Das Verschwinden der frankophonen extremen Rechten wurde durch den in Europa beispiellosen Aufstieg der extremen Linken bei den Wahlen ermöglicht, als 2014 zwei Abgeordnete der Belgischen Arbeiterpartei (PTB) ins Bundesparlament einzogen. 2019 kamen zehn neue Abgeordnete hinzu. Bei den Wahlen im Juni könnte die aus dem Maoismus hervorgegangene Arbeiterpartei weitere zwanzig Abgeordnete erhalten. Für einen Teil der Wählerschaft stellt sie offensichtlich eine Alternative dar, um die Macht herauszufordern.

Während der Antifaschismus heute als nicht mehr aktuell gelten könnte, erinnert die Erfolgsgeschichte des belgischen Aktivismus daran, dass der Kampf gegen die extreme Rechte, wenn er von einer ausreichenden Zahl von Akteuren geführt wird, die Gesellschaft nachhaltig beeinflusst. Jetzt, wo der Vormarsch des Nationalismus in ganz Europa unaufhaltsam zu sein scheint, sollten wir uns an die Kämpfe - und Siege - der Antifaschisten im Königreich Belgien erinnern und uns ein Beispiel daran nehmen. 

Mit freundlicher Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung EU

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