Bestseller Empörung

Frankreich liest sich in die Empörung. Mehr als 500.000 Exemplare von "Empört euch" des Philosophen und ehemaligen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel gingen bereits über den Ladentisch. Im Alter von 93 Jahren fordert er zu mehr sozialem und politischen Engagement auf.

Veröffentlicht am 7 Januar 2011 um 13:20

Ein Ehepaar, um die sechzig und leibgewordenes Klischee von Lehrern im Ruhestand, stürzt kurz vor Ladenschluss ins Geschäft. „Haben Sie das Buch von Stéphane Hessel? – Dort drüben liegt ein ganzer Stapel.“ Ein großer Seufzer der Erleichterung: sie wollten es augenscheinlich unbedingt haben. Andernorts erzählt ein Buchhändler, dass einige Kunden mehrfach zugreifen: „Ich nehme zehn Stück, um es allen meinen Freunden zu schenken“. Eine Dame erkundigt sich an der Kasse: „Für welchen gemeinnützigen Zweck wird das Geld verwendet?“

Vor zwei Monaten erschien das Buch Empört euch! (Indignez-vous!) von Stéphane Hessel. Seitdem erfreut es sich enormer Resonanz: 500.000 verkaufte Exemplare, zehn Auflagen und eine weltweite Nachfrage, das Werk zu übersetzen.

Der französische Wutbürger

Verbundenheit. Der Erfolg der etwa zwanzigseitigen Empörungsschrift für 3 Euro beruht nicht auf einer Zauberformel der Herausgeber. Hier liegt ein Gesellschaftsphänomen vor. Wie ein Lied, was man trällert oder einen Film, den man seinen Freunden empfiehlt, spiegelt Empört euch! den Zeitgeist wider. Der Kauf des Buches wird fast zu einer militanten Aktion, einer Geste der Verbundenheit und der Teilhabe an einem kollektiven Gefühl. Für eine Gesellschaft, die dem Auf und Ab der Finanzwelt und den daraus folgenden sozialen Auswirkungen ausgeliefert ist, geht es darum, ihre Empfindungen in Worten zu fassen.

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Wenn Hessel, gestützt auf die Autorität seiner persönlichen Geschichte, schreibt: „Die heutige Diktatur der internationalen Finanzmärkte […] gefährdet den Frieden und die Demokratie“, drückt er eine weit verbreitete Meinung aus.

Meine Vorschläge sind nicht sehr originell

Seit dem Zusammenbruch des bipolaren Weltsystems versucht eine bunt gemischte Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass sie nicht in einer Welt leben möchte, wo sich die einen immer mehr bereichern, während die anderen verarmen. Nun halten sie endlich ein Mittel in den Händen, um gehört zu werden. Und auch wenn verschiedene Linksaktivisten in seiner Leserschaft zu finden sind, bleibt Hessel selbst eindeutig dem sozialdemokratischen Erbe treu.

In seinem Buch tritt er sogar maßvoll auf. Auch wenn er Vergleiche zur Widerstandsbewegung zieht, versucht er zu differenzieren: „Die Gründe, sich zu empören, können heute schwer erkennbar oder die Welt zu komplex sein. Wer befiehlt, wer entscheidet? Es ist nicht immer leicht, zwischen all den Strömungen, die uns regieren, zu unterscheiden. Wir haben es nicht mehr mit einer kleinen Elite zu tun, deren Handlungen wir klar verstehen. Wir leben in einer vielschichtigen Welt. Aber die Wechselbeziehungen spüren wir durchaus.“ Er behauptet auch nicht, die Lösung zu kennen: „Die von mir gemachten Vorschläge und genannten Missstände sind an sich nicht sehr originell“, gibt er zu.

Ist Empörung ein Wert?

Gefühl. Der Titel, Empört euch! ist zwar ein effizienter aber zweideutiger Slogan. Empörung ist der Schlüssel zum Engagement, betont Hessel immer wieder und schwächt andere Motive für politischen Aktionismus ab: bewusste Wahrnehmung, rationale Entscheidungen, der Wusch, nützlich zu sein, Gerechtigkeitssinn oder Wahrheitsliebe… Allerdings stellt sich Hessel mit seinem Aufruf zur Empörung auf eine Zeit ein, die dem Gefühlsspektakel geweiht ist.

Hannah Arendt hat bereits die Gefahren analysiert und gezeigt, wie sehr eine auf dem Gefühl für die Not der anderen basierende „Politik des Mitleids“ einer wirklichen „Politik der Gerechtigkeit“ schaden kann. Setzt sich eine „Politik der Empörung“ nicht demselben Risiko aus? Und ist die Empörung eigentlich ein Wert? Es gab eine Zeit, in der Avantgarde und Kritiker davon träumten, das Bürgertum zu schockieren: sich zu empören war da ein Reflex der Konservativen. Von Bertolt Brechts Erzählung Die unwürdige Greisin sind wir nun beim „empörten alten Mann“ angekommen.

Aus dem Französischen von Martina Ziegert

Biographie

Das 20. Jahrhundert in einem Mann

Stéphane Hessel veröffentlicht Indignez-vous! am Ende eines ereignisreichen Lebens, welches fast die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts umfasst. Hessel wurde 1917 in Berlin als Sohn einer jüdischen (aber zum Teil zum Protestantismus konvertierten) Familie geboren. Er kommt 1924 nach Frankreich, erhält 1937 die französische Staatsbürgerschaft und wird 1939 in der wissenschaftlichen Hochschule Ecole Normale Supérieur in Paris aufgenommen. Er wird in die Armee eingezogen und gerät in Gefangenschaft, aus der er zu General De Gaulle nach London flüchten kann. 1944 wird er zurück nach Frankreich geschickt, wo er verhaftet und nach Buchenwald deportiert wird. Dort verheimlicht er seine Identität, um der Hinrichtung zu entgehen. Er flieht erneut, wird wieder aufgegriffen, springt von einem Zug und gelangt zu den amerikanischen Truppen…

Nach der Befreiung arbeitet er bei der UNO und ist an der Redaktion der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt. Er wurde 1981 von der sozialistischen Regierung zur Würde des „Botschafters von Frankreich“ erhoben und widmet seinen Ruhestand der Unterstützung von Menschen, die illegal im Land leben (er nahm eine Vermittlerrolle bei der Besetzung der Kirche Saint-Bernard 1996 ein) und in jüngster Zeit den Palästinensern, indem er sich unter anderem an dem Boykott israelischer Produkte beteiligte.

2006 wurde er zum Großoffizier der Ehrenlegion erhoben. Stéphane Hessel gilt als Herr der alten Schule, ist freundlich und von extremer Höflichkeit. Nichts macht ihm mehr Spaß, als sich am Ende eines Essens zu erheben, um Baudelaire oder Verlaine zu rezitieren. Aber ihm sind die Freuden der Politik nicht fremd. Im vergangenen Jahr hat er sich als Mitglied der sozialistischen Partei für die Partei Europa Ökologie zur Wahl gestellt. Heute gilt seine volle Unterstützung Martine Aubry [für die Präsidentschaftswahlen 2012], mit der er eng befreundet ist.

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