Big Brüssel is watching you

Im Namen der Sicherheit will die Europäische Union zum Spitzenreiter in der Bürgerüberwachung avancieren. Für die einen bieten die neuen Technologien mehr Schutz. Für die anderen, wie den Juristen Raf Jespers, handelt es sich um die Verletzung eines Grundrechts, dem Recht auf eine Privatsphäre.

Veröffentlicht am 9 Juni 2010 um 14:09

"Privatsphäre? Ein Konzept aus dem zwanzigsten Jahrhundert." So die lapidare Antwort von Marc Zuckerberg, dem Gründer des sozialen Netzwerks Facebook, das passgenaue Konsumentenprofile an die darauf so versessenen Unternehmen weiterverkauft. Google ist auch nicht viel besser: Es wird überwacht, wer wo surft, um den User mit gezielter Werbung zu bombardieren. Die Regierung — wäre das nicht die Instanz, die eigentlich unsere Privatsphäre schützen sollte? — schnüffelt auch mal gern. Man munkelt, dass selbst die CIA bei Facebook systematisch Informationen sucht — wie auch bei Twitter, Flickr, Amazon, sowie jeder Website über Politiker, Journalisten, Intellektuelle, Kritiker, Meinungsmacher, NGOs, usw.

Derweil Google von Europa dauernd kritisiert wird, weil die Firma die Internetuser überwache, geht die Union selbst noch einen Schritt weiter: Die berühmte, 2006 verabschiedete EU-Richtlinie zur Vorratsspeicherung von Daten verpflichtet die Telefonanbieter und Internet-Provider, Daten zu Telefongesprächen und Internet-Suchen mindestens zwei Jahre lang aufzubewahren und auf Verlangen der Behörden freizugeben. Einige Staaten haben bereits diese Richtlinie in ihr nationales Recht aufgenommen, wurden aber prompt von den obersten Rechtsinstanzen zurückgepfiffen.

Sicherheit ist Synonym von Technologie geworden

"Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 haben praktische alle Länder der westlichen Welt Gesetze verabschiedet, die das Recht auf Privatsphäre beschneiden", kommentiert der belgische Autor Raf Jespers, dessen Buch Big Brother in Europa (EPO, 2010) gerade erschienen ist. So sind in Belgien beispielsweise 2003 die Befugnisse von Polizei und Justiz erweitert worden. "Sicherheit ist Synonym von Technologie geworden, und das ist alarmierend."

Für den christdemokratischen Europaparlamentarier Ivo Belet ist die Befugniserweiterung "eine gute Sache". "Denken Sie mal an den Serienmörder Michel Fourniret. Er war ein in Frankreich aktenkundiger Mörder und die belgischen Behörden wussten nichts davon. So etwas darf nicht noch einmal passieren." In den letzten fünfzehn Jahren hat die Technologie einen unwahrscheinlichen Höhenflug genommen. Von Hubschraubern aus oder Drohnen unbemannte Flugkörper werden Kameras auf Menschenmassen gerichtet.

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Kameras sind der kleinste Teil des Problems

"Überwachungskameras sind allgegenwärtig", sagt Jespers. "In Mechelen ist der Bürgermeister sehr stolz auf sein teures Kameranetzwerk, obwohl in England, wo bereits seit zehn Jahren überall Kameras hängen, sich die Investitionen nicht ausgezahlt haben." Für den Kriminologen Paul de Hert von der (niederländischsprachigen) Freien Universität Brüssel können Kameras "in bestimmten Kontexten nützlich sein, in Tiefgaragen oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Problemzonen."

Für Raf Jespers ist die Kameraüberwachung aber nur ein marginaler Aspekt des Problems. "Jeder kann heute nachverfolgt werden, via sein Handy, sein GPS, über RFID (Radio Frequency Identification) in U-Bahndauerkarten mit Chip... von den neuen Möglichkeiten der Biometrie ganz zu schweigen." Wir werden also überall und ständig überwacht. Aber ist die fehlende Privatsphäre nicht einfach eine neue Form der Privatsphäre? Denn schließlich, wenn alle überwacht werden, wird im Grunde niemand überwacht. "Das stimmt nur teilweise", meint Jespers. "Es gibt in der Tat zu viele Daten, um alle zu überprüfen. Vergessen wir aber nicht, dass es heute Software gibt, die Daten nach bestimmten Kriterien in Rekordzeit analysieren kann. Denken Sie an den SWIFT-Skandal."

Berater der EU-Kommission haben Verbindungen zur Rüstungsindustrie

Die Frage der Privatsphäre bereitet der jungen Generation, die mit Internet aufgewachsen ist, keine schlaflosen Nächte. Auch die Politiker sorgen sich nicht sonderlich. Nur ein paar Menschenrechtsorganisationen bieten noch Widerstand. "Am ärgsten ist es, dass sich die nationalen Politiker hinter Europa verstecken", kommentiert Jespers. "Und wenn wir die EU machen lassen, wird es noch schlimmer werden."

Was die Sicherheit betrifft, hat die Europäische Kommission vor allem auf die Überwachung mittels der neuen Technologien gesetzt. Man denke nur an die Datenbanken SIS, VIS und Eurodac und an die Europäischen Beiräte, die die Kommission geschaffen hat: "Wenn sie sich den Vorsitz der Beiräte angucken, trauen Sie ihren Augen nicht", sagt Jespers. "Der erste Präsident des ESRAB war Markus Hellenthal vom Rüstungskonzern EADS. Im ESRIF, der Nachfolgerorganisation des ESRAB, haben mehr als zwei Drittel der Beiräte Verbindungen zu Technologie- oder Rüstungskonzernen. Die Lobbyisten müssen gar kein Lobbying mehr betreiben, sie entscheiden bereits selbst. Die Folgen kann man sich leicht ausmalen: Das europäische Budget für Forschung im Bereich Sicherheitstechnologie hat sich in den letzten Jahren verzehnfacht und liegt heute bei 200 Millionen Euro pro Jahr. Und beinahe alle Forschungsprojekte betreffen Überwachungssysteme. Die europäische Sicherheit ist heute völlig militarisiert."

Der Schutz der Privatsphäre steht in der Europäischen Menschenrechtskonvention

Die Kernfrage bleibt: In welchem Maße beeinflusst diese Entwicklung das Leben des Normalbürgers? Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten, nicht wahr? "Jeder hat was zu verbergen", denkt Jespers. "Vielleicht ist das Buch, das Sie heute bei Amazon kaufen, ein ganz unschuldiges Buch, aber wer weiß, ob die Regierung es nicht in zehn Jahren für kriminell erklärt? Warum sollten wir der Regierung — insbesondere der europäischen — vertrauen, wenn sie uns ganz offensichtlich auch nicht vertraut? Zudem, noch ist die Privatsphäre ein von der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkanntes Menschenrecht." (js)

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