Data Auf dem Weg zu Brexit | Deal or no deal?

Brexit: „Die Europäische Union steht vor einem Dilemma, das sie schwächt.“

Zwei Monate vor dem Ende der Übergangsphase sind die Verhandlungen zwischen London und Brüssel über den Brexit-Vertrag ins Stocken geraten.

Veröffentlicht am 11 November 2020 um 11:21

Aurélien Antoine, Professor für öffentliches Recht an der Universität Saint-Etienne, Direktor des Observatoriums des Brexit und Autor des Buches Le Brexit, une histoire anglaise (Der Brexit, eine englische Geschichte, Dalloz, 2020), entschlüsselt, was in den kommenden Wochen auf dem Spiel steht.

Die wichtigsten Spannungsfelder des Brexit – die Aufrechterhaltung des freien Personenverkehrs über den Ärmelkanal und die Nicht-Wiederherstellung einer Grenze zwischen den beiden Staaten Irlands – wurden in dem vor einem Jahr verabschiedeten Austrittsabkommen entschieden. Die Übergangszeit, die bis Ende Dezember läuft, sollte alles andere regeln. Was steht noch aus?

Hauptsächlich drei Aspekte. Erstens können sich die beiden Seiten nicht auf die Bedingungen eines fairen Wettbewerbs einigen. Die britische Regierung ist nach wie vor der Ansicht, dass die Europäische Union (EU) ihr nicht genügend Spielraum lässt, damit das Vereinigte Königreich wieder seine Souveränität zurückgewinnt. Beispielsweise sei es unfähig, über sein eigenes Rechtssystem für staatliche Beihilfen zu entscheiden.

Das Vereinigte Königreich fordert ein Abkommen nach dem Vorbild des CETA-Modells, das die EU mit Kanada abgeschlossen hat, und das eine Reihe von Regulierungs-Kooperationen vorsieht, und damit letztlich eine recht enge Beziehung zwischen beiden Zonen befürwortet. Allerdings fordern die Briten einen privilegierteren Zugang zum europäischen Binnenmarkt als Kanada, insbesondere mit Null-Zoll-Tarifen, den Brüssel verweigern darf, wenn London nicht einer ehrgeizigen regulatorischen Angleichung zustimmt, namentlich durch harmonisierte Gesundheits-, Umwelt- und Sozialstandards.

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Auf der anderen Seite ist die Europäische Union nach wie vor der Ansicht, dass sie das Vereinigte Königreich aufgrund seines früheren Status als Mitgliedstaat in seiner Umlaufbahn halten und ihm eine stärkere regulatorische Anpassung auferlegen kann als anderen Partnerländern. In den Augen von Boris Johnson und insbesondere in denen von Dominic Cummings, seinem Sonderberater, ist das Freihandel-„Global Britain“, das sie aufbauen wollen jedoch ein Staat wie jeder andere, ohne besondere Verbindung zur Europäischen Union. Da die Herangehensweise an die Verhandlungen auf beiden Seiten des Ärmelkanals unterschiedlich ist, fällt es beiden Seiten schwer, einen konstruktiven Dialog zu führen.

Der zweite Knackpunkt, bei dem die EU mehr zu verlieren hat als das Vereinigte Königreich, ist die Fischerei. London, das die Kontrolle über seine Hoheitsgewässer zurückgewinnen will, hat vor kurzem ein Abkommen mit Norwegen geschlossen, das den gegenseitigen Zugang beider Länder zu ihren Fischereizonen und die Festlegung von Quoten vorsieht, die jährlich überprüft werden sollen. Es befürwortet ein solches Abkommen mit Europa, was Brüssel ablehnt.

Der letzte Spannungspunkt betrifft Regierungsfragen und insbesondere die Rolle des Gerichtshofs bei der Auslegung des künftigen Abkommens und die Modalitäten der Angleichung der Rechtsvorschriften. Die Europäische Union möchte, dass die Entscheidungen des Gerichtshofs auch für London bindend sind, während das Vereinigte Königreich jede Einmischung des Gerichtshofs ausschließt, insbesondere wenn diese seine normative Souveränität einschränken könnte.

Die laufende Verabschiedung eines „Binnenmarkt“-Gesetzes durch das britische Parlament Mitte September scheint das Vertrauen zwischen den beiden Seiten gebrochen zu haben. Worum geht es genau?

Das Ziel des Gesetzes ist es, die auf Nordirland anzuwendende Regelung allein dem Vereinigten Königreich zu überlassen. Das ist ein Verstoß gegen das im vergangenen Jahr zwischen den beiden Parteien geschlossene Austrittsabkommen. Nach langen Monaten voller Hindernisse hatten sie eine Alternativlösung gefunden, um eine Erneuerung der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verhindern.

Der Gesetzentwurf, der die britische Regierung ermächtigt, den Handel nach Nordirland einseitig zu regulieren, verstößt jedoch gegen das dem Ausstiegsvertrag beigefügten Protokoll zu Irland. Letzteres sieht eine gemeinsame Verantwortung mit der EU in dieser Frage vor. Dieser direkte Verstoß gegen das internationale Recht hat die Beziehungen zur Europäischen Union ganz klar beschädigt, zumal die Achtung des Rechts und des Grundsatzes von Treu und Glauben für die EU von grundlegender Bedeutung ist.

Gibt es außer der Fischerei nicht noch andere Sektoren, in denen sich Spannungen herauskristallisieren, wie z.B. im Finanzbereich?

Die französischen Fischer haben mehr zu verlieren als ihre Kollegen in jedem anderen europäischen Land. Aus diesem Grund findet diese Frage dort mehr Resonanz. Die Finanzfrage wird unterdessen viel zurückhaltender gestellt, zumal sich allmählich Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen der City und den europäischen Finanzzentren abzeichnen, die mittelfristig eine Überwindung des Brexit ermöglichen könnten.

Zudem macht die immaterielle Dimension des Finanz-Austauschs den Sektor meines Erachtens auch weniger anfällig als Industriesektoren, die beispielsweise in ihrem Herstellungsprozess Montageteile auf beiden Seiten des Ärmelkanals in Umlauf bringen müssen.

Wer hat ein Interesse daran, am Ende der Übergangsphase kein Abkommen geschlossen zu haben?

Kurzfristig sind die Auswirkungen eines „No Deal“ [fehlendes Abkommen, Anmerkung der Redaktion] negativ für das Vereinigte Königreich. Aber wer weiß schon, wie es in fünfzehn Jahren aussehen wird? Die britische Regierung, die zugegebenermaßen eine eher utopische Vision des Brexits hat, rechnet mit schwierigen ersten Jahren. Langfristig will sie aber eine bessere Situation als innerhalb der EU erreichen, insbesondere durch den Aufbau neuer Beziehungen zu den USA oder dem Pazifikraum. Was passiert, wenn diese Strategie funktioniert? Das kann man heute unmöglich beurteilen.

Kurzfristige negative Auswirkungen für das Vereinigte Königreich, unabhängig vom Ausgang der Verhandlungen
Veränderung des BIP über den 15-Jahres-Horizont im Vergleich zum Szenario der EU-Mitgliedschaft. Quelle: Britische Regierung, November 2018, Bearbeitung von Crédit Agricole. Auf der letzten Seite dieses Dokuments

Für Europa ist es genau das Gegenteil. Angesichts der Größe seines Binnenmarkts hat es kurzfristig weniger zu verlieren, auch wenn es in einigen Sektoren große Veränderungen erfahren wird. Wenn das Alleingang-Abenteuer Großbritanniens allerdings mittel- und langfristig gelingt, könnte der Brexit den Effekt einer politischen Zeitbombe haben, und den weniger europafreundlichen Mitgliedstaaten zuspielen.

Nach einer vollständigen Blockierung erklärte sich das Vereinigte Königreich bereit, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Wer steht für die kommenden Diskussionen auf der besseren Seite?

Wenn das Vereinigte Königreich wirklich eine enge Verbindung mit der Europäischen Union aufrechterhalten wollte, hätte es bereits bei einer Reihe von Standards nachgeben können, um einen gerechteren Wettbewerb zu ermöglichen. Das ist aber absolut nicht der Fall.

In Bezug auf die Frage des Sicherheitsnetzes zwischen den beiden Staaten Irlands hatte die EU ihrerseits bereits teilweise nachgegeben, um das Karfreitagsabkommen zu erhalten. Sie will also nicht den Eindruck erwecken, dass sie den britischen Forderungen - und sei es nur teilweise - nachgibt. Da das Gebiet jedoch auf den Fundamenten eines riesigen Binnenmarkts errichtet wurde, fällt es Brüssel schwer, den britischen Markt aufzugeben. Trotz ihrer erklärten Entschlossenheit steht die Union vor einem Dilemma, das sie schwächt.

Angesichts der von der britischen Regierung an den Tag gelegten Arglist und der Brutalität ihres Binnenmarktgesetzes sollte die Europäische Union vielleicht ausdrücklich das Risiko eines „No Deal“ eingehen. Aus wirtschaftlicher Sicht ist dies natürlich nicht wünschenswert, aber was soll man mit einem Partner machen, der seine Verpflichtungen nicht einhält?

In der Zwischenzeit beharren wir darauf, dass wir keinen Konkurrenten vor unserer Haustür haben wollen, der, wie man so schön sagt, zu einem „Singapur-auf-der-Themse“ wird, während wir Steueroasen innerhalb der EU bereits tolerieren. Wie können wir unter diesen Umständen von einem Drittland verlangen, anspruchsvoller zu handeln als mit bestimmten Mitgliedstaaten?

Ist es noch möglich, dass bis zum 1. Januar 2021 ein Abkommen geschlossen wird und in Kraft tritt?

Diese Perspektive entfernt sich infolge einer Reihe von einzuhaltenden Verfahrenspflichten allmählich immer mehr. Auf britischer Seite wird eine Gesetzgebung erforderlich sein, um die erzielte Vereinbarung in nationales Recht umzusetzen. Das könnte ziemlich schnell gehen, zumal das Austrittsabkommen keine wesentliche Rolle für das Parlament vorsieht. In der Tat könnte dies in rund zwei Wochen geregelt werden.

Auf der europäischen Seite wird dies dagegen viel länger dauern. Der Rat und das Parlament müssen ihre Zustimmung geben, was grundsätzlich Zeit in Anspruch nehmen kann. Anschließend muss der Text von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden, gemäß ihren verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die beschleunigte Verfahren vorsehen können. Es wird mehrere Wochen dauern, ohne mögliche Klagen vor dem Gerichtshof. Meines Erachtens ist es daher noch bis Mitte November möglich, darüber zu diskutieren. Von da an wird es Anlass zur Sorge geben.

Auch wenn sich die beiden Parteien momentan immer noch in einer Sackgasse befinden, ist es dennoch möglich, sich verschiedene rechtliche Lösungen vorzustellen, wie z.B. die frühzeitige Umsetzung bestimmter Regelungen oder ein späteres Inkrafttreten zugunsten bestimmter Sektoren, was einer Verlängerung der Übergangszeit gleichkäme. Das Gesetz sieht eine Reihe von Lösungen vor, aber es ist unwahrscheinlich, dass Boris Johnson in die Verlängerung gehen wird.

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