Cameron kriegt die Euro-Krise

Am 24. Oktober lehnte das britische Unterhaus mit großer Mehrheit einen Antrag ab, ein Referendum über die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU abzuhalten. Die konservative Regierungspartei war hinsichtlich dieser Abstimmung gespalten. So auch die britische Presse, die sich allerdings einig ist, dass die Beziehungen zur EU neu zu überdenken sind.

Veröffentlicht am 25 Oktober 2011 um 14:06

“Rekord-Rebellion rüttelt David Cameron - Neue Uneinigkeit der Tories über Europa”, lautet der Titel des Guardian. Eine Rekordzahl von 81 konservativen Parlamentsabgeordneten hatte sich nämlich für ein Referendum über die Beziehungen Großbritanniens zur EU ausgesprochen, obwohl sie durch ihre Partei angewiesen worden waren, dagegen zu stimmen. Mit 483 Stimmen gegen 111 erlitten die Tory-Rebellen eine eindeutige Niederlage. Sie weisen darauf hin, dass sich Cameron “einen überwältigenden Sieg” gesichert habe, “da Labour-Chef Ed Miliband seine Parlamentsabgeordneten gezwungen hat, nach den Vorgaben der Partei abzustimmen.” Der Mitte-Links-Tageszeitung zufolge kann der britische Premierminister sich jetzt auf einen “vierjährigen Grabenkrieg mit übel gelaunten Abgeordneten” gefasst machen. Der Leitartikel kommt zu dem Schluss:

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Die Rekord-Revolte der 81 Tory-Abgeordnete zeigt den anhaltend zerstörerischen Einfluss der Partei auf die Europäische Union. – The Guardian

Der Premierminister, der früher bereits Kampagne für ein Referendum oder zumindest für eine Rückkehr der Macht von Brüssel nach Westminster gemacht hatte, schlug gegenüber den Parlamentsabgeordneten im Unterhaus eine europhile Note an:

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Angesichts der Wirtschaftskrise ist es nicht der richtige Zeitpunkt, ein Gesetz über ein Referendum für oder gegen die EU-Mitgliedschaft zu verabschieden. Wenn das Haus Ihres Nachbarn brennt, sollten Sie ihm zuerst helfen, die Flammen zu ersticken, nicht zuletzt, damit sie nicht auf Ihr eigenes Haus übergreifen. – The Economist

Einer am Tag der Parlamentsabstimmung veröffentlichten Umfrage des Guardian zufolge halten viele Briten den Ärmelkanal jedoch für eine wirksame Brandschneise. Insgesamt 70 Prozent der Wähler sind für eine Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens. 49 Prozent der potenziellen Teilnehmer am Referendum sagen, sie würden das Referendum für einen EU-Austritt nutzen, gegenüber 40 Prozent, die es vorziehen, Mitglied zu bleiben. Als altgediente Kolumnistin ist Polly Toynbee wütend. Für sie ist …

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… die Geduld [Europas] mit unserem widerlich arroganten, egoistischen und zerstörerischen Verhalten wirklich bemerkenswert. Wir wollen alles, geben wenig, klagen ständig und erzählen unglaubliche Lügen über den Club, den wir alle gemeinsam betreiben. Normalerweise seufzen die anderen angesichts des verzogenen Kinds der EU höflich, während wir uns einen Wutanfall nach dem anderen gönnen. – The Guardian

Dieser Auffassung ist auch Steve Richards vom Independent. Er meint, konservative Euroskeptiker hätten “ein Fantasie-Referendum über ein Fantasie-‘Europa’ vorgeschlagen.” Die EU, so schreibt er,

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… ist eine flexible Fantasievorstellung, die alle paar Jahre in den Vordergrund rückt, um Regierungen zu zerstören. Die wahrhaftige Europäische Union ist bürokratisch, ohne klare Rechenschaftspflicht, und entwickelt sich ziellos. Trotz aller Probleme ist es Europa jedoch wert, zu existieren und dazuzugehören, und zwar jetzt noch mehr als zum Zeitpunkt des britischen Beitritts Anfang der 1970er Jahre. […] Es ist dennoch wahrscheinlich, dass eine zukünftige wesentliche Veränderung Europas in Großbritannien einem Referendum unterworfen wird. Angesichts des vorherrschenden Klimas würde ein solches Referendum negativ ausfallen, was bedeutet, dass eine britische Regierung wahrscheinlich nicht in der Lage ist, einer weiteren Integration welcher Art auch immer zuzustimmen. – The Guardian

Dem Daily Telegraph zufolge waren in dieser Woche zwei “David Camerons am Werk”. In Europa marschierte der erste vorneweg und setzte sich gegen den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy durch. Dieser erklärte sich selbst für “krank angesichts der Vorhaltungen, die die Eurozone von einem Land hinnehmen muss, das die gute Idee hatte, ihr nicht beizutreten.” Die Tory-freundliche Tageszeitung kritisiert jedoch -

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Ein Premierminister, der versucht, seine eigene Partei daran zu hindern, frei ihre Meinung zu äußern – die darüber hinaus von einem Großteil der Öffentlichkeit geteilt wird – begibt sich auf ein gefährliches Gebiet. […] Es ist nicht vernünftig, einen großen Teil seiner Parlamentsvertreter bewusst vor den Kopf zu stoßen, wenn mit einer langwierigen diplomatischen Auseinandersetzung in Europa zu rechnen ist. – The Guardian

Der Leitartikel der konservativen Tageszeitung The Times kritisiert die Verwirrung um den Antrag selbst:

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Der Antrag auf ein Referendum ließ drei Optionen: Verbleib in der Europäischen Union, Austritt, oder Neuverhandlung der Bedingungen. Die Antragsteller hatten ganz offensichtlich keine Ahnung davon, wie ein Referendum mit drei Optionen funktioniert und waren nicht in der Lage zu erklären, was mit Neuverhandlung eigentlich gemeint war. […] Ein neues Überdenken der Beziehungen des Landes zu Europa ist [jedoch] seit langem überfällig. Der richtige Zeitpunkt wird kommen. Noch ist es jedoch nicht soweit, und nicht unter den verworrenen Bedingungen, die dem Parlament vorgelegt wurden. – The Guardian

“Skandal um EU-Treuebruch”, lautet die Schlagzeile des Daily Express, der an der Spitze einer leidenschaftlichen Kampagne für einen kompletten Austritt aus der EU stand. Die Union ist seiner Meinung nach die Quelle allen Übels. Die Tageszeitung beschwert sich in ihrem Leitartikel, dass die “Wünsche der britischen Bevölkerung mit Füßen getreten wurden”. Dennoch -

… markiert diese Debatte im Unterhaus einen Wendepunkt in der Haltung Großbritanniens zur EU. Die eskalierende Krise in der Eurozone und die zunehmende Einmischung Brüssels in unsere Gesetze und Lebensweise bedeuten, dass unsere weitere Mitgliedschaft nicht länger als unentbehrlich angesehen wird. Die Auseinandersetzung geht weiter. – Daily Express

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