“Ich will nicht als Chinese sterben”

Für den italienischen Schriftsteller Antonio Scurati stellen die immer zahlreicher werdenden Investitionen Chinas in Europa und der Einfluss des chinesischen Kapitalismus auf die europäische Wirtschaft eine Bedrohung für die Freiheit und Souveränität der Europäer sowie ihr soziokulturelles Modell dar.

Veröffentlicht am 13 Oktober 2011 um 16:54

Ich weiß nicht, wie Sie denken, ich jedenfalls habe absolut keine Lust, als Chinese zu sterben – was bei der momentanen Entwicklung der Dinge ziemlich wahrscheinlich ist.

Genau Mitte September, als in den südlichen Regionen Europas alles auf eine Katastrophe zuzusteuern begann, kündigte der chinesische Premier Wen Jiabao während des World Economic Forum, das seit 2007 – welch ein Zufall – in China stattfindet (dieses Jahr unter dem Titel "New Champions 2011"!), eine Fortsetzung und Erhöhung der chinesischen Investitionen auf dem "alten" Kontinent an. Mit geradezu unheimlichem Timing waren in den Tagen davor ständig Gerüchte kursiert, denen nach China den Kauf einer grossen Menge italienischer BOT-Staatsanleihen plane. Bestätigt wurden sie durch die Reise des Präsidenten eines der reichsten Investment Fonds der Welt, China Investment Corp, nach Rom, wo er entscheidende Investitionen in strategisch relevante Unternehmen unseres Landes in Betracht zog. Seitdem vergeht kein Tag, an dem wir uns nicht alle fragen, ob uns die Chinesen nun retten oder bei uns einfallen.

Rettet oder überfällt uns China?

Für mich eine recht beunruhigende Frage, zumal ich einen Roman herausgebracht habe, La seconda mezzanotte, der wie durch Zufall am 14. September erschienen war, just als Wen Jiabaos Aussagen durch die Presseagenturen gingen. Das darin beschriebene Szenario: Italien wird 2092 ein Satellitenstaat Chinas, nachdem es ihm seine gesamte Auslandsschuld übertragen hat, und Venedig, nach einer schrecklichen Überschwemmung von einem transnationalen Unternehmen aus Peking erworben, wird als neu gegründete Politisch Autonome Zone zum Vergnügungspark für den Luxus und die maßlose Lasterhaftigkeit der Neureichen aus dem Osten. Bei mir gibt es also auf eine beunruhigende Frage eine beunruhigende Antwort.

China stellt eine Bedrohung für die europäischen Grundfeste dar

Von literarischen Katastrophenszenarien einmal abgesehen, scheint es mir jedoch absolut offensichtlich, dass eine hypothetische politisch-wirtschaftliche Hoheit Chinas in der "alten Welt" den Niedergang der europäischen Kultur in der Form, wie wir sie (wenn auch vielleicht nur ideell gesehen) gekannt, erträumt und geliebt hatten, bedeuten würde. Ich fürchte, sie stellt eine große Bedrohung für die kulturellen Grundfesten der modernen europäisch-westlichen Zivilisation dar: politische Volkssouveränität, Gedankenfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, Arbeitnehmer- und Bürgerrechte, Unabhängigkeit des Einzelnen, Solidarität zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, Wert der menschlichen Person, Lebensmittelsicherheit, Unantastbarkeit des Lebens.

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Ich befürchte das nicht nur, weil ich noch immer das Bild des jungen Mannes am Platz des himmlischen Friedens vor Augen habe, der sich nur mit zwei Einkaufstüten bewaffnet einem Panzer entgegenstellte, oder weil ich einen Kampf der Kulturen zwischen Europa und China voraussehe, sondern weil mir die Tendenz Richtung Finanzkapitalismus Angst macht, dessen Spitze die chinesischen Staatsfonds darstellen – eine Verwendung des Kapitals, das eigentlich Beschäftigung und Unternehmen finanzieren sollte, jedoch letztlich deren Untergang besiegelt.

Sollte der Politik nicht in nächster Zukunft eine Kehrtwende auf diesem Weg von der Souveränität in die Würdelosigkeit gelingen, besteht wirklich die Gefahr, dass es in nicht einmal allzu ferner Zukunft zu einem riesigen Interessenskonflikt zwischen spekulativen Interessen einer staatenlosen Finanzwelt – ob nun chinesisch, amerikanisch oder italienisch, sei dahingestellt – und unseren Bedürfnissen, berechtigten Erwartungen und Hoffnungen kommt.

Aus dem Italienischen von Salka Klos

Aus chinesischer Sicht

Italien wird enden wie Sparta

Die Befürchtungen, die Scurati in seinem Roman äußert, scheinen in China ein Echo zu finden: "Die schuldengebeutelten südeuropäischen Länder haben es nicht etwa mit einer Krise, sondern mit kommerziellen Mauscheleien zu tun. Griechenland und Italien, die einst den Mittelmeerraum beherrschten, altern und werden letztendlich von Horden asiatischer Touristen gerettet werden, wie Sparta", schreibt die Asia Times. Die in Hongkong niedergelassene News-Website vergleicht das griechische Sparta, "die erste Weltmacht, die einem demographischen Suizid zum Opfer fiel, aber auch die erste ehemalige Macht, die in Form eines Themenparks weiterlebt" mit den beiden Mittelmeerländern: "Die letzten Spartaner ölten sich weiter die Haare, trugen ihre Tuniken, spielten auf ihren Flöten und stellten sich in Phalanx auf, zur Freude der römischen Besucher.

Wenn die Touristen aus Italien es Sparta ermöglichten, 500 Jahre nach dem Verschwinden seines politischen Modells noch am Leben zu sein, dann können die chinesischen Touristen in aller Ruhe Italien ein oder zwei Jahrhunderte lang über Wasser halten. Wie die Spartaner werden die Italiener letztendlich Pizzen verkaufen, Glas blasen und Jahrgangsweine abfüllen, zur größten Freude der Horden von Asiaten. Wenn die Bedingungen günstig sind, dann könnten es innerhalb einiger Jahre doppelt so viele asiatische Touristen geben. Das würde Italien helfen, seine Auslandsschulden zu verringern. Doch es gibt eine Gegenanzeige: Dann gehört nämlich ein großer Teil des Landes China."

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