Die Krise zerreisst uns

Schulden und Sparpolitik sind für die meisten Europäer die neue Realität. Für manche jedoch ist diese Situation eine Gelegenheit, schnellen Profit zu schlagen. Wie man in diesem Kontext überhaupt noch von Völkern und Gemeinschaft sprechen kann, fragt der irische Kolumnist John Waters.

Veröffentlicht am 29 November 2011 um 13:05

„Der Euro mag zwar kurz vor der Explosion stehen, doch es ist trotzdem noch Gewinn zu machen“, las ich neulich morgens in einem Werbelink, der mir auf der Website der Irish Times ins Auge stach. Der Ton dieser Aussage – der so im Widerspruch zu der bei diesen Themen sonst üblichen Pietät stand – verleitete mich dazu, auf den Link zu klicken.

Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Anzeige für eine Online-Publikation, die täglich einen e-Newsletter über Geldanlagen verschickt, und zwar „nur die Nachrichten, von denen Sie profitieren können“. Versprochen werden den Abonnenten Vorteile durch unmittelbar bevorstehende Entwicklungen in der Eurokrise. Der sich anbahnende „Wendepunkt“ – der Moment, an dem die Märkte umschlagen – soll den Insidern Chancen bieten, „hohen Gewinn“ zu schlagen. Treten Sie näher! Herbei, herbei!

Die Grausamkeit der Märkte

Mich überkam bei der Lektüre dieser Anzeige ein seltsames, schlingerndes Gefühl, das mich nicht nur daran erinnerte, dass der Geschäftsverkehr allen Katastrophen zum Trotz weiterläuft, sondern auch daran, dass Katastrophen oft die Gelegenheit für lukrative Geschäfte bieten. Man rechnet nicht damit, solche Dinge bei den Kommentaren oder den Leserbriefen zu finden, doch trotzdem standen sie da, an dieselbe Leserschaft gerichtet: die Denkweise der „Märkte“ in all ihrer Grausamkeit.

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Am selben Tag war auf der Titelseite der Printausgabe der Irish Times ein Bericht mit dem Titel „Europa will Irland noch lange nach der Rettungsschirm überprüfen“ zu lesen. Doch was bedeutet in diesem Kontext „Irland“? Die Schlagzeile unterstellt eine gemeinsame Allgemeinheit mit geteilten Interessen: Der Gedanke dabei ist, dass ein ausgeprägtes „Wir“ mit einer gemeinschaftlichen Situation konfrontiert ist. Doch gehören zu dieser „Gemeinschaft“ auch diejenigen, die aus eben den Ereignissen, die andere in eine möglicherweise tödliche Katastrophe stürzen, einen „hohen Gewinn“ ziehen wollen?

Ein Spiel, das über Schicksale entscheidet

Diese Werbung für die Spekulation innerhalb der Eurozone erinnert uns daran, dass es in diesem Kontext kein nennenswertes „Wir“ gibt, dass das Fortbestehen solcher Konzepte einer kollektiven Anstrengung nur erfundene Überbleibsel sind, die auf einem nostalgischen Realitätssinn beruhen. Nicht nur ist die moralische Versammlung in einem Land, das sich selbst der globalen Wirtschaft ausgeliefert hat, etwas unplausibel, sondern es ist auch nicht länger sinnvoll, so ein Gebilde überhaupt noch als „Land“ zu bezeichnen.

Im wirtschaftlichen Sinn gibt es heutzutage nur noch die gegensätzlichen Interessen von Akteuren, die bei einem Spiel gewinnen wollen, das rein zufällig auch über die echten Schicksale echter Menschen mit echten Leben entscheidet.

Das ist die heutige Bedeutung des Wortes „Wirtschaft“. Unsere Medienorganisationen – lauter kommerzielle Unternehmen – betreiben das „Geschäft“ mit der Information über das Geschehen. Doch auch sie sind in der dualistischen Absurdität der modernen Wirtschaftsrealität verfangen – sie sprechen eine imaginäre allgemeine Bevölkerung an, die durch die Entwicklungen mutmaßlich benachteiligt wird, während sie zugleich bewusst den aufgeblähten Aasgeiern zunicken, die unheilvoll am Himmel kreisen.

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