Geert Mak – Europas Wiedereroberung

Was wird das Jahr 2012 dem Projekt Europa bringen? Ein gemeinschaftliches System mit einer starken Europäischen Kommission oder ein dezentralisiertes, zwischenstaatliches System, wie es Deutschland will? Der Historiker Geert Mak hat ein düsteres Buch über die Zukunft der Europäischen Union geschrieben.

Veröffentlicht am 9 Januar 2012 um 14:50
Geert Mak.

Er begriff, dass er nicht mehr länger warten konnte. Derzeit arbeitetGeert Mak en einem Buch über die Vereinigten Staaten. Europa war also ein wenig in den Hintergrund getreten. Doch als die deutsche Wochenzeitung Die Zeit fragte, warum die europäischen Intellektuellen sich in Schweigen hüllen, schreib er De hond van Tišma. Wat als Europa klapt? [Tišmas Hund. Was wäre, wenn Europa kippt?]

Tišmas Hund ist ein düsteres Buch. Mit dem Historiker und Europa-Spezialisten Norman Davies kommt Geert Mak zum Schluss, dass der EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs vom vergangenen Dezember seine letzte Hoffnung begraben hat. “Ich fürchte, es ist vorbei.”

Es ist die Geschichte von too little, too late. Zu wenig Geld für den Rettungsfonds, zu wenig Sanktionsmöglichkeiten, zu wenig Visionen und letztlich zu wenig europäische Führung. “Merkels Deutschland”, schreibt Geert Mak “hat die historische Chance verpasst, in Europa die Führung zu übernehmen. Aus Angst vor den Gespenstern der Vergangenheit und dem Gespenst der Inflation drängt Deutschland Europa in die Rezession.” “Ein Irrtum”, sagt Geert Mak. “Schmeißt lieber die Druckmaschinen an und spart den Süden nicht kaputt.

Europa muss zurückerobert werden und weg von der Logik des Geldes, schreiben Sie. Aber wie? 1989 besiegte der freie Westen den Kommunismus. Und ließ dem Casino-Kapitalismus freie Hand.

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Wer Geschäfte macht, muss Risiken eingehen. Sie können belohnt werden, aber auch schiefgehen. Jeder kleine Händler auf dem Wochenmarkt weiß das. Doch wurde der freie Markt von den Banken, die quasi eine antidemokratische Revolution in Gang gesetzt haben, untergraben. Sie haben die Macht an sich gezogen. Jeder kommt schwer geschädigt aus der Krise heraus, nur nicht jene, die sie verursacht haben. Die Banken riskieren nichts, und der öffentliche Sektor zahlt die Zeche.

Ich war kürzlich bei einem Treffen, wo ein chinesischer Top-Ökonom und ein afrikanischer Zentralbanker einer Gruppe von europäischen Finanzexperten die Leviten lasen. Eine interessante historische Umkehrung. Der Afrikaner sagte: “Eure Banken sind voll mit hoch qualifizierten Menschen, die alle nur erdenklichen Fehler gemacht haben. Das lässt sich nur damit erklären, dass andere Faktoren bei ihren Entscheidungen den Ausschlag gegeben haben. In Afrika nennen wir diese Faktoren Korruption.” Es wurde still im Saal. Er spielte auf die Boni an und hatte völlig recht.

Europa war ein Versuch, die Demokratie über die nationalen Grenzen hinaus zu hieven. Kommt die Demokratie nicht gegen einen entfesselten globalen Markt an?

Das ist es ja, was mich so traurig macht. Mit all seinen Gebrechen, Beulen und Dellen ist Europa in dieser Hinsicht ein fantastisches Experiment. Darum müssen wir es auch mit Zähnen und Klauen verteidigen. Die EU sollte das Modell sein, welches diesem wilden 21. Jahrhundert zeigt, dass die demokratischen Werte aufrecht stehen. Ist das weg, dann werden andere in das Vakuum springen: die Amerikaner, die Chinesen, die Brasilianer, die Russen.

Die EU ist ein typisches Produkt des Glaubens an die Machbarkeit des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Haben am Ende die Populisten recht? Es funktioniert nicht?

Nein. Aber Sie haben einen Punkt gemacht: Über Europa hängt ein Nebel des Unbehagens. In den Niederlanden ist dies Gefühl sehr ausgeprägt. Andere Länder grunzen noch zufrieden. Populisten nutzen dieses Unbehagen. Ich kann die Kritik an Europa verstehen. Aber sich in sich selbst zurückziehen ist wie an Magie glauben. Ein nationaler Mythos ist unglaublich verführerisch. Manchmal denk ich ja selbst abends in meinem Bett: Und wenn ich jetzt mal eine Viertelstunde ein Rechter wäre! Welch eine Wonne!

Das Unbehagen ist in Ihrem Buch zu spüren. Sie sind durch und durch Europäer, Sie betrachten die Dinge mit dem Blick des Historikers und dann kommen Sie nicht darum herum: Sie müssen zugeben, dass es nicht funktioniert.

Es ist zwar traurig, aber ich war nicht überrascht. Im letzten Kapitel meines Buchs “In Europa, eine Reise durch das 20. Jahrhundert” [deutsche Übersetzung im Pantheon Verlag] habe ich geschrieben, dass Europa ein schaukelndes Schiff mit 27 Kapitänen auf der Brücke sei. Bei Sturm werde das zum Problem, sagte ich voraus. Und im Moment ist Sturm.

Ihr Buch endet düster. Was sind Ihre Hoffnungen für 2012?

Im kommenden Jahr geht es um die Frage, wie Europa aussehen soll. Bleibt es ein gemeinschaftliches System unter der Leitung einer starken Europäischen Kommission, oder wird es zu einem dezentralen, zwischenstaatlichen System, wie es die Deutschen wollen? Die Niederlande können hier eine Vermittlerrolle übernehmen. Wir sind nicht so dogmatisch wie die Deutschen. Wir sollten schon aus Eigeninteresse diese Rolle mit voller Kraft spielen. Denn wir sind und bleiben ein international ausgerichtetes Land.

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