Wachstum - ein magisches Wort

Seit ein paar Wochen scheint „Wachstum“ das neue Zauberwort zu sein. Doch wie erzeugt man es? Es hat zwar noch keine praktischen Diskussionen zum Thema gegeben, doch Infrastrukturprojekte könnten vielleicht ein Lösungsansatz sein. Auszüge.

Veröffentlicht am 23 Mai 2012 um 16:27

Als Krisengipfel wird sie nicht bezeichnet, diese informelle Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs der EU heute Abend in Brüssel. Doch Griechenland steht kurz vor dem Austritt aus der Eurozone, das spanische Bankensystem kurz vor dem Bankrott, die Arbeitslosenzahlen in der EU erreichen Rekordhöhen und die europäischen Wirtschaft ist zusehends rückläufiger, also kann man definitiv von einem Gipfeltreffen in Krisenzeiten sprechen.

Glaubt man Herman van Rompuy, dem Präsident des Europäischen Rats, so ist das heiße Thema des heutigen Gipfels das Wachstum. Das ist das neue Zauberwort in Brüssel: Fast jeder, der in Europa etwas zu sagen hat, hat sich bereits für die Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums ausgesprochen. Der französische Präsident Hollande machte es zum Thema seiner Wahlkampagne, mit der er über seinen Rivalen Sarkozy siegte. Der Vorsitzende der EU-Kommission, Barroso, sieht darin eine perfekte Aufgabe für Brüssel: große Infrastrukturprojekte unter der Aufsicht seiner Kommission, die der europäischen Wirtschaft neues Leben einhauchen sollen.

The Economist verglich das Wirtschaftswachstum mit dem Weltfrieden

Alle sind sich mehr oder weniger darüber einig, dass höheres Wirtschaftswachstum zur Lösung des Schuldenproblems beitragen kann. Die Frage ist jedoch, wie die Regierungschefs das nötige höhere Wachstum herbeiführen können. Die britische Wochenzeitung The Economist verglich das Wirtschaftswachstum mit dem Weltfrieden: Alle sind dafür, aber jeder hat eine andere Vorstellung davon, wie dieser Frieden erzielt werden soll.

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Die Wirtschaftswissenschaft gibt auch keine Antworten. Seitdem Ende 2008 mit dem Zusammenbruch der amerikanischen Handelsbank Lehman Brothers die Finanzkrise ausbrach, streiten sich die Wirtschaftsexperten über den Ausweg aus der Krise. Im Großen und Ganzen gibt es zwei Hauptrichtungen: Zum einen die Anhänger von groß angelegten Stimulierungsmaßnahmen der verschiedenen Nationalregierungen. Andererseits diejenigen, die eine rapide Kürzung der Staatsausgaben befürworten.

Die Botschaft von Bundeskanzlerin Merkel, die Regierungen müssten ihre Defizite reduzieren, wird als dogmatisch empfunden und Kritiker betonen, dass die Probleme in vielen südlichen Ländern, Griechenland und Spanien voran, nur zugenommen haben. Kürzungen in Rezessionszeiten verschlimmern die wirtschaftliche Maläse nur, so lautet das Gegenargument.

Kennen die europäischen Bürger eine bessere Krisenlösung?

Der wichtigste Befürworter dieser Theorie ist der amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman. In seiner Kolumne in der New York Times kritisierte er wiederholt die europäischen Regierungschefs. Sie scheinen zu glauben, Wirtschaftswachstum ohne Schmerzen (durch Kürzungen) sei nicht möglich. Laut Krugman ist diese moralistische Ansicht heute jedoch überholt – je schneller Europa diesen Weg aufgibt, desto besser. Die Wahlergebnisse in Frankreich und Griechenland waren für ihn keine Überraschung, sondern der Beweis, dass die europäischen Bürger eine bessere Vorstellung davon haben, wie man die Krise überwindet, als die meisten führenden Politiker.

Das Beispiel, das die Gegner der Stimulierungsstrategie anführen, ist Japan. Anfang der Neunziger Jahre war Japan mit einer ähnlichen Krise konfrontiert wie die USA und Europa ab 2008.

Seitdem versucht die japanische Regierung, durch Stimulierungsmaßnahmen die Wirtschaft aus ihrer Flaute zu bringen. Alle Geldmittel, die in die Wirtschaft hineingepumpt wurden, konnten nicht verhindern, dass Japan in den letzten 20 Jahren nur minimales Wirtschaftswachstum verzeichnete und regelmäßig in die Rezession abglitt.

Wofür sollen die Regierungen die zusätzlichen Mittel aufwenden?

Die Verfechter der Stimulierungstheorie heben wiederum hervor, dass die japanische Regierung viel zu spät handelte. In den ersten Jahren nach dem Platzen der Blase verfolgte die Regierung eine Strategie der Haushaltsdisziplin, genau wie Europa heute.

Doch selbst wenn man sich darüber einig wäre, dass Kürzungen in Rezessionszeiten schädlich sind, bleibt immer noch die Frage, worauf die Regierung die zusätzlichen Mittel anwenden sollte. Auf das Argument, die Regierung müsse die wirtschaftliche Nachfrage unterstützen, antworten die Gegner, das sei nur der einfache Teil. Denn: die Nachfrage wonach? Die Regierung produziert keine Gegenstände, abgesehen von Infrastrukturen wie Straßen, Deiche und Brücken. Demnach wird die Wirtschaft in der Praxis auch oft dadurch stimuliert. Doch verbessert das wirklich die Wirtschaftslage?

Heute Abend muss klar gestellt werden, ob die Regierungschefs bereit sind, den Geldbeutel zu zücken

Nehmen wir die berühmte japanische Geschichte einer teuren Brücke, die zwei Milliarden Dollar kostete, um besseren Zugang zu einer Insel mit 800 Einwohnern zu erlauben. Durch dieses Projekt konnte die Regierung ein paar Baufirmen einen saftigen Auftrag erteilen und zeitweise ein paar Leute anstellen, doch die wirtschaftliche Produktivität wurde nicht erhöht. Zudem stellt sich die Frage, ob solche Projekte die Wirtschaft überhaupt ankurbeln können oder ob die Bauarbeiter nicht wieder beim Arbeitsamt landen, sobald die Brücke fertiggestellt wurde und die Regierung nichts mehr ausgeben kann.

Diese praktische Diskussion findet in Europa nicht wirklich statt. In der europäischen Geschichte gibt es massenweise Beispiele: Die Autobahnen in Spanien und Portugal, über die die Touristen zu ihren Urlaubszielen gelangen, wurden meistens mit europäischen Geldern finanziert. Arme Regionen werden immer noch mit Mitteln aus den Strukturfonds der Europäischen Kommission unterstützt. Die bereits vorgeschlagenen, zaghaften Pläne, damit das Wachstum in Europa durchstartet, sehen folgendermaßen aus: ein höheres Budget für die Europäische Investitionsbank, um große Projekte zu finanzieren, und mehr Geld für die Kommission, um die laufenden Arbeiten zu erweitern.

Heute Abend muss klar gestellt werden, ob die Regierungschefs daran glauben, dass diese Maßnahmen zur Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums in Europa ausreichen. Und auch, ob sie bereit sind, den Geldbeutel zu zücken.

Wirtschaft

Die OECD warnt vor einem „Teufelskreis“ der Rezession

Ein am Vorabend des Europäischen Gipfeltreffens am 23. Mai veröffentlichter Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnt die Europäer vor einer „strengen Rezession“, die die Eurozone bedrohe, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt. Laut der Münchner Tageszeitung, prognostiziert die OECD

nur wenn sich die Krise nicht verschärfe, könne die Wirtschaftsleistung in der Euro-Zone 2013 um 0,9% wachsen

Die OECD empfiehlt den krisengebeutelten Staaten außerdem, ihren Sparkurs zu dämpfen, wie Die Welt hervorhebt:

Die OECD fordert entsprechend die Regierungen auf, die Reformpolitik in den Krisenländern möglichst sozialverträglich zu gestalten und auf die Schwächsten der Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. In Volkswirtschaften, in denen das Wachstum weiterhin schwach sei, könnten die Regierungen ihre Sparbemühungen drosseln, um ein weiteres Abrutschen der Wirtschaft zu verhindern.

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