Polizist vor einem Mega-Plakat. Tiflis.

Warum die EU uns nicht hereinlassen soll

Im Herbst wählt Georgien ein neues Parlament, 2013 folgen die Präsidentschaftswahlen. Im Zentrum des Wahlkampfs steht die Annäherung an die EU und insbesondere die Freizügigkeit. Aber, so warnt ein georgischer Journalist, eine Abschaffung der Visum-Pflicht für die EU würde seine Landsleute nur anreizen, ihr Land zu verlassen, anstatt sich an dessen Entwicklung zu beteiligen.

Veröffentlicht am 16 August 2012 um 10:29
Polizist vor einem Mega-Plakat. Tiflis.

Auf einer seiner Wahlveranstaltungen sagte kürzlich Micheil Saakaschwili, dass Georgien Gespräche mit der Europäischen Union beginnen werde, damit die Visum-Pflicht für Georgier vereinfacht und auf lange Sicht hin abgeschafft werde. Ein Thema, das Hunderttausende unserer Landleute betrifft, die in der EU arbeiten oder dorthin aus geschäftlichen oder privaten Gründen reisen.

Dabei steht quasi fest, dass dies leere Versprechungen sind, denn „Mischa“ weiß ganz genau, dass die Europäische Union unter keinen Umständen in den nächsten Jahrzehnten die Grenzen zu Georgien öffnen wird. Wenn es auch schockieren mag, ich wage mich sogar so weit vor, zu behaupten, dass es in Georgiens Interesse ist, dass die Visum-Pflicht mit der Union kompromisslos bestehen bleibt.

Supermarkt Europa

Die Gründe, warum die Union sie nicht abschaffen wird, liegen auf der Hand. Man kann so viel wiederholen wie man will, dass wir ein „Leuchtturm der Demokratie“ sind, dass wir Fortschritte bei der Umsetzung radikaler Reformen machen und so weiter, im Land selbst wandeln sich die Mentalitäten kaum.

Viele unserer Mitbürger sehen in der Europäischen Union eine Art riesigen Supermarkt, der nur darauf wartet, geplündert zu werden. Die tagtäglichen Festnahmen von Georgiern in Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland oder Österreich, beweisen, dass die rührenden Geschichten von „den Besten, die gezwungen sind, das Land zu verlassen, um anderenorts hart zu arbeiten“ bei weitem nicht immer der Wahrheit entsprechen.

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Die Gründe, warum die Visa auch in unserem Interesse sind, möchte ich an einem Beispiel erörtern, dass zunächst abwegig erscheinen mag: die Süditaliener, deren Mentalität der unseren sehr nahe kommt. Ich habe mich immer gefragt, warum die Menschen in Sizilien, Kampanien (der Region von Neapel), Kalabrien oder Apulien es nicht schaffen, sich vom zerstörerischen Einfluss der Mafia zu befreien.

Es sind Regionen eines G7-Staates mit einer entwickelten Wirtschaft, mit Hochtechnologie und einem Justizsystem. Warum gibt es also immer noch die mittelalterlichen Praktiken, diesen absurden Kodex? Meines Erachtens besteht das Problem Süditaliens darin, dass es die leistungsfähige Lokomotive Norditalien gibt, weshalb die Menschen im Süden nicht die zwingende Notwendigkeit sehen, irgendetwas zu verändern.

Besser ist, es gibt keinen Zufluchtsort

Die tragische Situation der Süditaliener wird durch die Tatsache, dass es für sie immer noch einen Zufluchtsort gibt, weiter verschärft. Wer sich der Omertà verweigert, dem bleibt die Möglichkeit, alles hinter sich zu lassen, in einen Zug steigen, und in nur ein paar Stunden ist er in einer völlig anderen Welt: in Rom, Mailand oder Turin. Aus diesem Grund entsteht keine kritische Masse von motivierten Menschen, die aufstehen und sagen: „Basta, so kann es nicht weitergehen!“

Die Moral von der Geschicht’: Soll Georgien zu einem normalen Land werden, darf es keinen Ausweg geben. Die Mehrheit der Bevölkerung mit georgischem Pass soll nicht einfach irgendwohin fliehen können, damit für uns die einzige Option darin besteht, unsere Missstände selbst aus dem Weg zu räumen.

Lösungen werden oft erst dann gefunden, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Ich fordere also die EU-Funktionäre auf, sich mit der Abschaffung der Visum-Pflicht für Georgien Zeit zu lassen. Zu unserem eigenen Wohl. (js)

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