Vor der einvernehmlichen Trennung

Belgien geht geteilter denn je aus den Parlamentswahlen vom 13. Juni hervor: In Flandern erreichten die flämischen Separatisten unter Bart De Wever eine führende Stellung, während in Wallonien und in Brüssel die Sozialisten ihr bestes Ergebnis seit Jahren erzielten und Parteichef Elio Di Rupo als Ministerpräsident gehandelt wird.

Veröffentlicht am 14 Juni 2010 um 15:13

"Historisch": So betitelt die flämische Presse einstimmig den Wahlsieg der NV-A unter dem Nationalisten Bart De Wever, der innerhalb von zehn Jahren seine Bewegung in eine unvermeidbare Mitwirkende der belgischen Politik verwandelte und 27 (von 150) Sitzen in der neuen Abgeordnetenkammer einheimste. Auf der französischsprachigen Front ging die sozialistische Partei (PS) mit 26 Sitzen als Sieger hervor. Die Sozialisten werden also mit 39 Sitzen zur führenden politischen Familie des Landes und haben demnach Anspruch auf den Posten des Ministerpräsidenten. Das war seit 1974 nicht vorgekommen.

"Belgien besteht sehr wohl aus zwei Ländern", titelt La Libre Belgique, mit "De Wever, Champion in Flandern" einerseits und "Di Rupo, zukünftiger Regierungschef" andererseits. Le Soir teilt sein Titelblatt ebenfalls in zwei Hälften mit De Wever und Di Rupo: "Zwei Männer für einen Staat". Der Parteichef der NV-A steht hoch in der Gunst der flämischen Presse. So ist es Bart De Wever lautDe Morgen "gelungen, den flämischen Nationalismus wieder in die Demokratie zu bringen und der [ausländerfeindlichen Partei] Vlaams Belang ordentlich Saures zu geben. Allein dafür verdient er schon Respekt".

De Wever: Entweder Versprechen halten oder aussitzen

Der flämischen Tageszeitung zufolge steht De Wever vor einer "enormen Verantwortung und einer schwierigen Entscheidung: Entweder versucht er, alle seine Versprechen zu halten, eine parlamentarische Mehrheit für eine große Staatsreform zu finden und die Teilung des BHV durchzuführen [= der zweisprachige Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde, Stein des Anstoßes der Spannungen zwischen französischsprachigen Belgiern und Flamen]. Oder er sitzt es aus, hält alle ein paar Wochen lang hin und schreit dann, dass man mit diesen Frankophonen wirklich zu nichts kommen kann, um dann als größte Fraktion in der flämischen Regierung in Ruhe alles zu blockieren."

Die einzige Frage, auf die heute niemand eine Antwort hat, ist folgende: Was will Bart De Wever selbst? Sicher ist, so findet auch De Standaard, dass "ein sehr großer Teil der Flamen eine tiefgreifende Staatsreform wünscht und nicht an die ins Wanken geratenen Strukturen Belgiens glaubt". Die Zeitung appelliert an eine Zusammenarbeit der beiden großen Sieger, von welcher die Zukunft des Landes abhängt. "Es gibt keine Alternative zur Vernunftehe zwischen Elio Di Rupo und Bart De Wever. Oder vielmehr, es gibt sie doch: die Möglichkeit, dass Flandern, Brüssel und Wallonien noch tiefer in der Flaute versinken." Denn nicht nur die flämischen Wähler üben Druck aus, sondern auch die wirtschaftliche Situation, wie Het Nieuwsblad warnt: "Die Krise ist immer noch da. Auch der Druck Europas, Ordnung in die Staatsfinanzen zu bringen, ist immer noch da."

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Wahlergebnis als Riesenchance zur Reform

"Die Flamen, die für Bart De Wever gestimmt und seine Inthronisation ermöglicht haben, wollen ja nicht, dass er das Land in zwei Teile teilt – zumindest nicht sofort – oder dass er von heute auf morgen die flämische Unabhängigkeit anordnet. Sie rufen vor allem lauthals der französischsprachigen Bevölkerung und den traditionellen flämischen Parteien zu: Reformiert das Land, regionalisiert mehr!" meint wiederum Le Soir. Die Brüsseler Tageszeitung sieht in der Wahl vom 13. Juni eine "riesige Chance", die zu einem Ausweg aus der aktuellen politischen Versperrung führen kann, "denn in jeder der beiden Gemeinschaften ist der echte Machthaber am Ruder.

Hier prallen zwei Gewalten aufeinander, die – fast schon karikierend – jeweils das Wesen ihrer Gemeinschaft verkörpern und nach dem Wahlergebnis eine extreme Legitimität besitzen. Parteien mit völlig entgegengesetzten Absichten und politischen Standpunkten, die aber auch politisch in der Lage sind, einen echten Pakt zu errichten. Werden sie den Mut dazu haben?" fragt sich Le Soir. "De Wever wird sich mit einer Logik abfinden müssen, die im Endeffekt darauf abzielt, Belgien zu retten, und Di Rupo mit einer anderen, die darin besteht, es zu zerschlagen. Das Schicksal Belgiens liegt in der Hand dieser beiden Männer."

EU-Vorsitz eines zerrissenen Landes

Werden sie dazu fähig sein, die institutionellen Reformen durchzuführen, die nach Meinung aller unvermeidlich sind, um einen Ausweg aus der Situation zu finden? "DIE Frage ist natürlich, ob Bart De Wever wirklich in der Lage ist, einen Verhandlungsprozess mit der frankophonen Gemeinschaft einzugehen", bemerkt dazu La Libre Belgique. "Wird er, wenn es so weit ist, die nötigen Kompromisse eingehen können, um zum allgemeinen Einvernehmen zu gelangen?" Was den sozialistischen Parteiführer betrifft, schließt La Libre Belgique, so "hat sich Elio Di Rupo ebenfalls sehr gemäßigt geäußert" und erklärt, dass dem von "einem sehr großen Teil der flämischen Bevölkerung" ausgedrückten Wunsch nach einer Weiterentwicklung Belgiens "Gehör geschenkt werden muss".

"Wenn sich knapp 50 Prozent der flämischen Wähler offen als separatistisch erklären, wird es offensichtlich, dass sich das Blatt grundlegend gewendet hat", heißt es schließlich in der Tageszeitung L’Echo, für welche "die Suche nach einer neuen Regierungskoalition schwierig sein wird. Die Verhandlungen könnten Monate dauern, während Belgien im Juli den Vorsitz der EU übernimmt und mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert ist", sorgt sich die Wirtschaftszeitung. (pl-m)

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