An Bord eines Billigfliegers. Foto von Hollabackpackers

Fliegender Identitätswechsel auf Kosten der Umwelt

Von London nach Girona für 20 Euro? Günstige Reiseangebote sind moderne Europäer gewohnt, schließlich sind sie ja schon länger Teil des täglichen Lebens. Die negativen Auswirkungen der Billigflieger auf die Umwelt könnten aber die neue, von Ryanair und Co gestiftete europäische Identität gefährden.

Veröffentlicht am 28 August 2009 um 13:50
An Bord eines Billigfliegers. Foto von Hollabackpackers

Die 700 Fluggäste des irischen Billigfliegers Ryanair, die am Londoner Flughafen Stansted strandeten, sehen das Geschäftsprinzip dieser Fluglinien möglicherweise nicht nur positiv. Weil es am 2. August zu wenig Angestellte gab, konnten die Reisenden ihr Gepäck nicht rechtzeitig vor dem Abflug aufgeben. Bewaffnete Polizisten mussten das Flughafenpersonal vor den wütenden Passagieren schützen. Ob diese wohl erneut riskieren würden, mit Ryanair zu fliegen? Trotz der gelegentlichen Skandale in der Branche lässt sich der Trend des preiswerten Reisens angesichts der 62 Billigfluglinien in der EU als ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Infrastruktur bezeichnen.

Was kostet die europäische Identität?

Für Nick Winterton, der viele Jahre in Camden Town in London gewohnt hat, waren günstige Flüge ein Segen, denn er fand sein zweites Zuhause in der katalanischen Stadt Tossa de Mar an der Costa Brava. "Als wir das erste Mal nicht mehr im Rahmen einer Pauschalreise, sondern eigenständig durch Europa reisten, dachten wir, 200 Pfund (ca. 235 Euro) sind preiswert. Ich will gar nicht daran denken, wie viel Geld das heutzutage ist!" Inzwischen ermöglichen Billigfluglinien ein Leben in verschiedenen Ländern. "Wir reisen immer mit dem Flugzeug nach Spanien und buchen nahezu ausnahmslos Ryanair nach Girona," sagt Nick. Derzeit kosten ein Ryanair-Flug von Luton nach Girona rund 21 Pfund (ca. 25 Euro). Lächerlich preiswert, wenn man nur Handgepäck mitnimmt.

50 Prozent Wachstum und kein Ende in Sicht?

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Der Zugang zu niedrigen Tarifen für Menschen wie Nick hat den enormen Boom im europäischen Fluggeschäft noch weiter angekurbelt. In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der Passagiere auf innereuropäischen Flüge laut der Association of European Airlines ("Verband europäischer Fluggesellschaften") um 50 Prozent. Zusammen mit dem Schengener Abkommen und der Marktöffnung für Fluggesellschaften, die beide in die 1990er Jahre fielen, hat dies unsere Art zu reisen, aber auch unsere Sicht auf uns selbst grundlegend verändert. Denn einfach und billig durch Europa zu jetten ist mittlerweile zentraler Bestandteil der europäischen Identität.

Dem Fernweh nicht nur im Jahresurlaub nachgeben

Ebenso beispielhaft ist der Fall von Kai Andrea Sauthoff, die in Hannover lebt und arbeitet, aber seit vielen Jahren Verbindungen nach Portugal pflegt. "Ich habe in Lissabon studiert und gelebt und mich dabei Hals über Kopf in dieses wunderschöne Land verliebt. Seitdem mache ich dort mindestens einmal pro Jahr einen Monat Urlaub." Obwohl sie nicht dort wohnt, identifiziert sich Kai mit Portugal. "Ich fühle mich nicht wie ein Ausländer, weil ich mit der Zeit gelernt habe, gut portugiesisch zu sprechen und die Kultur zu lieben. Ich mag es, Deutsche zu sein. Aber weil ich Portugal so liebe, ist die europäische Identität für mich wichtiger als die nationale."

Das Ungetüm der "Umweltunverträglichkeit"

Bedenken bezüglich der Umweltverträglichkeit beeinflussen die Debatte über die Zukunft des Flugreisens jedoch immer mehr. Umweltschützer hoffen, dass die Aufnahme der Luftfahrt in das Programm des EU-Emissionshandels in den nächsten Jahren der Industrie Anreize schaffen wird, den Schadstoffausstoß ihrer Flugzeuge zu reduzieren. Effizientere Maschinen könnten hilfreich sein, aber ein gleichzeitiger Anstieg der Preise ist unvermeidlich. Will man weiterhin billig reisen, muss man auf Veränderungen der europäischen Infrastruktur, wie den Ausbau des Hochgeschwindigkeitszugnetzes, setzen. Auf diesem Wege könnten die Umweltbelastungen auf weitere Strecken verteilt und die Umweltbeeinträchtigungen zumindest für die Statistik reduziert werden. Aber auch wenn die ökonomischen und politischen Kosten traditioneller Verkehrsmittel berücksichtigt werden müssen, bedeutet Reisefreiheit wenig ohne Fortbewegungsmittel.

Die Europäische Identität ist in Gefahr

Nimmt man andere Maßnahmen wie das Verbot des Flughafenausbaus hinzu, wächst die Angst vor dem Risiko, die nach wie vor zerbrechliche europäische Identität durch eine Einschränkung der Reisefreiheit zu gefährden. Nick hat Tossa de Mar mittlerweile vollkommen in seinen Alltag integriert, ohne aber das Leben eines Auswanderers zu führen. „Es fühlt sich nicht mehr fremd an. Als wir die Wohnung gekauft hatten, fühlten wir uns schlagartig anders: Die Stadt war genauso ein Teil von uns geworden wie Camden. Wir reden manchmal in Tossa darüber, nach Hause zu fahren – und meinen damit unsere spanische Wohnung, nicht die englische.“ Identitätsprobleme sind daher vorprogrammiert. „Manchmal beschreibe ich mich als Europäer. Nur nicht auf Treffen mit anderen Europäern, weil wir dann alle in Stereotypen zurückfallen und ich sehr britisch werde. Billigflüge haben sicherlich einen großen Umbruch eingeleitet und der war durchweg positiv,“ meint Nick. Ist die europäische Identitätserfahrung in Gefahr, wenn der europäische Bürger nicht mehr schnell und billig verreisen kann?

Nathan Charlton (London)

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