Ein Demonstrant in der Nähe des Taksim-Platzes, Istanbul, 14 Juli.

Das „Ende der Geschichte“ naht

Nach Ansicht des Politologen Francis Fukuyama hat eine Gesellschaft dann ihren höchsten Entwicklungsstand erreicht, wenn dem Wunsch nach Demokratie in einer liberalen Wirtschaft zufriedenstellend nachgekommen wird. Mit ihren Demonstrationen gegen Erdoğan, möchten die Türken genau dieses Ziel erreichen.

Veröffentlicht am 22 Juli 2013 um 11:52
Ein Demonstrant in der Nähe des Taksim-Platzes, Istanbul, 14 Juli.

Jede soziale Erscheinung – und Revolutionen sind soziale Erscheinungen – ist das Ergebnis einer Reihe von Ursachen. Deren Ausmaße bestimmen, wie sich die Erscheinung ausdrücken wird. Ich glaube also nicht, dass Verschwörungstheorien hier sinnvoll sind.

Etliche Ereignisse können in ihrem Verlauf durch eine Person oder eine Gruppe von Personen abgeändert werden, doch der Ursprung eines historischen Ereignisses beruht auf der Beteiligung von Millionen von Personen, die Millionen von Fakten und Ereignissen verursachen. Diese laufen zu einem gegebenen Zeitpunkt zu dem zusammen, was wir „historisches Ereignis“ nennen.

Der so genannte „arabische Frühling“ – die Vorgänge in der Türkei gehören zum selben Prozess – kann nur korrekt interpretiert werden, wenn man diesen Kontext berücksichtigt. Niemand orchestriert diese Ereignisse von außen. Es handelt sich hier nicht um den Krieg einer Person gegen die Demonstranten. Wir stehen ganz einfach vor einer Entwicklung der Individuen in diesem Land in ihrem Profil, ihrer Denkweise und ihrer Psychologie.

Francis Fukuyama ist einer der wesentlichen Autoren in der Thematik der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. In Das Ende der Geschichte bezieht er sich auf die hegelsche Logik und erstellt ein besonderes Evolutionsmodell für die Gesellschaft. [[Die Menschheit wird in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung eine Obergrenze erreichen, wenn ihre demokratischen Vorstellungen befriedigt sind]], meint er. Damit erreicht die Menschheit „das Ende der Geschichte“. Das bedeutet, dass die liberale Demokratie – im Gegensatz zu anderen Formen der politischen Organisation und Verwaltung – zu einem Stadium gelangt, in dem sie sich nicht mehr weiterentwickelt, und zwar aufgrund von internen Widersprüchen, die ihre Funktion gefährden.

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Eine neue Generation

Unter diesem Gesichtspunkt kann man sagen, dass in der Türkei eine neue Generation junger Menschen auf der Bildfläche erscheint, deren Denkweise und Auftreten sich sehr von denen ihrer Eltern und Großeltern unterscheiden. Insofern ähnelt diese Generation dem Rumänien von Ende 1989. Während die jungen Leute auf die Straße gingen, um das Ende des Kommunismus zu fordern, waren ihre Eltern im Fernsehen zu sehen, wo sie von ihrem Arbeitsplatz in der Fabrik aus dem ehemaligen Präsidenten Nicolae Ceauşescu und dem Kommunismus ewige Treue schworen und ganz proletarisch erzürnt die Demonstrationen verurteilten.

Die jungen Türken sind im Zeitalter des Internet groß geworden, sie sprechen Englisch und wollen nach Belieben Alkohol trinken dürfen, zu jeder Tages- oder Nachtzeit, oder ihre(n) Liebste(n) auf der Straße küssen. Obwohl sie sich ganz offensichtlich weder von ihrem Glauben noch von ihrer Religionszugehörigkeit lossagen, verstehen sie diese Beschränkungen deutlich als eine Einmischung in ihre Privatsphäre, in ihre persönliche Freiheit.

Dies stimmt auch mit dem derzeitigen geopolitischen und geoökonomischen Status des Landes überein. Die Türkei ist seit vielen Jahren Mitglied in der NATO und verzeichnet ein positives Wirtschaftswachstum sowie einen konstanten Anstieg des Lebensstandards. Weil sie eine Brücke zwischen Ost und West darstellt, haben ihr die USA immer eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Und nun geht die Jugend auf die Straße, obwohl der Lebensstandard zunimmt. [[Es ist klar, dass sie nicht Brot, sondern Freiheit wollen.]] Nicht die Armut treibt sie auf die Straße, sondern der Eindruck, dass sie in einem Land leben, in dem sich das politische Regime von ihren Idealen entfernt. Das Bild einer westlich gekleideten Lehrbeauftragten der Universität Istanbul, die von Ordnungshütern angegriffen wird, ist ein Symbol für diese Demonstrationen.

Eine paradoxale Staatsführung

Nach einer langen Zeit militärischer Regimes ist Erdoğans Regierung in der Tat ein ziviles Regime. Doch es herrscht ein Paradox in der Führung dieses Staates. Die von den ehemaligen Militärdiktaturen eingebrachte Stabilität und das Gleichgewicht wurden durch ein ziviles Regime gefährdet. Jedes Mal, wenn in einem derartigen Staat Wahlen veranstaltet werden, gewinnt eine fundamentalistische religiöse Partei, die eine Rückkehr zur Tradition verspricht. So war es in Ägypten und so wird es wahrscheinlich auch in Syrien oder anderswo passieren. Das sagt viel über die riesige Entfernung aus, die die Türkei noch von unserer westlichen Welt trennt.

Um diesen enormen Widerspruch zu lösen, bräuchte die muslimische Welt eine religiöse Revolution, ähnlich der von Martin Luther angestoßenen Reformation, die ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen dem religiösen Glauben und dem typisch menschlichen Streben nach Zivilisation und Stabilität einsetzen könnte. Die Türkei wird nicht wieder bei Null anfangen müssen. Sie besitzt eine Tradition, wenn man sich die Geschichte etwas näher ansieht und sich an Kemal Atatürk Anfang des 20. Jahrhunderts erinnert.

Weder demokratisch noch undemokratisch

Europa und die Vereinigten Staaten könnten bei der Aushandlung einer Lösung für den sozialen Frieden behilflich sein, um die Stabilität des Landes zu erhalten. Im Hinblick auf die Normen der Demokratie haben wir es mit einer Grauzone zu tun: Es ist weder demokratisch noch antidemokratisch. Die Türkei hätte ein großes Potential, um mittelfristig zu einer großen Macht zu werden, als Mitglied in der NATO und in der EU, als echter Zivilisationsträger mit einer Grenze zum so problematischen Nahen Osten.

Mit der wirtschaftlichen Freiheit kommt auch die politische Freiheit. In der Türkei sind die Anzeichen für das „Ende der Geschichte“ – im Sinne von Hegel und Fukuyama – näher als in anderen muslimischen Staaten. Mit „näher“ meine ich nicht ein oder zwei Jahre, sondern vielleicht ein paar Generationen. Doch was bedeutet dies, gemessen am Maßstab der Geschichte und der Geduld, die uns die Zeit entgegenbringt? Es ist allerdings von höchster Wichtigkeit, dass das Land bis dahin stabil bleibt.

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