Das ganze Unheil Europas

Der alte Kontinent kämpft gleichzeitig gegen eine moderate Wirtschaftskrise, eine schwere politische Krise, eine dramatische Kulturkrise und eine vielleicht tödliche Geisteskrise, warnt der polnische Philosoph Marcin Król.

Veröffentlicht am 12 November 2012 um 12:33

Wir wissen, dass Europa fast immer schon in einer Krise steckte. Der Unterschied zwischen der ständigen Furcht vor der Krise, wie man sie in der Vergangenheit kannte, und der heutigen Situation liegt darin, dass Europa früher noch die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur Selbstkritik besaß, mit welcher es die aufeinanderfolgenden Krisen bewältigen konnte. Diese Fähigkeit steht ihm heute nicht mehr zur Verfügung. Denn das Europa von früher existiert schlicht nicht mehr.

Wir können uns die Zukunft des Planeten ohne Europa nur schwer vorstellen – gar nicht unbedingt in einer führenden Rolle, aber immerhin als Träger von grundlegenden Normen und Grundsätzen für uns selbst und für kommende Generationen. Europa ist unsere einzige Existenzform. Doch wenn Europa sich verflüchtigt, gänzlich verschwindet oder extrem schwächelt, sehen wir zu ohne zu wissen, was wir tun sollen.

Zwischen Spiritualität und Moderne

Meistens werden dreierlei Lösungsansätze angeführt. Der erste ruft zu einer Rückkehr zu Bewährtem auf, zu diversen Formen des Wohlfahrtsstaats und der Sozialdemokratie.

Der zweite Ansatz geht davon aus, dass die Krise weder ausschließlich noch vorwiegend wirtschaftlicher Natur ist, und verlangt einen politischen Wandel. Zu den am weitesten verbreiteten politischen Sichtweisen gehört hier die eines bundesstaatlichen Europas mit starken internen Bindungen. Dieses durchaus nette Bild ist jedoch ebenso alt wie Europa und erweist sich immer als falsch. Sein wesentlicher Fehler besteht darin, dass keine einzige europäische Gesellschaft einen Bundestaat Europa haben will – aus dem einfachen Grund, dass sich dieses neue Europa, wenn man es denn überhaupt erschaffen könnte, von dem, was wir als unsere Existenzform betrachten, grundsätzlich unterscheiden würde. Der dritte und letzte Antworttyp beruht auf der Überzeugung, dass ein Wirtschaftsaufschwung automatisch alle Bereiche des europäischen Lebens verbessern wird.

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Alle drei haben eines gemeinsam: Sie suchen die Lösung in der Gegenwart. Wir wollen sie im Hier und Jetzt finden, vorzugsweise mit altbekannten Mitteln, die wir einfach nur besser einsetzen.

Wir führen gewöhnliche Maßnahmen ins Feld, nicht etwa aus Mangel an Phantasie oder an Mut, sondern weil wir nicht wissen, was wir sonst tun können. Wenn man es bedenkt, so ist das Europa von heute besonders durch Angst gekennzeichnet – keine Furcht vor einem möglichen Währungsfiasko, sondern vor allem eine intellektuelle und geistige Angst.

Der aktuelle Zustand der Machtlosigkeit Europas wurde durch vier große Kluften zwischen Spiritualität und modernem Zeitgeist herbeigeführt. Der erste Gegensatz ist der zwischen Religion und Rätselhaftem als Schlüssel zum Verständnis der Welt auf der einen und der Behauptung, Religion sei Aberglaube auf der anderen Seite. Der zweite Gegensatz besteht zwischen Nationalismus und Nationalstaat, die den Werten und Praktiken des Universalismus gegenüberstehen. Die Konfrontation zwischen Utilitarismus und Genussstreben in Verbindung mit der Neigung des Einzelnen, sich auf vorsichtige, begrenzte Zielsetzungen zu beschränken, ist der dritte Graben. Der vierte trennt die Demokratie, also die Gemeinschaft, und Liberalismus als Motor der persönlichen Freiheit.

Bekannte Probleme

Wir wissen fast alles über die aktuelle Krise. Die brillanten Wirtschaftsexperten wussten genau, dass die Ausmaße der Staatsschulden untragbar waren, dass Griechenland seit langem über die seine Grenzen hinausgeschossen war und dass es zu einer Katastrophe führen würde, die Finanzspekulation jeglicher Regierungskontrolle zu entziehen.

Auch der demographische Wandel und die abzusehenden Desaster in den Bereichen Renten, Gesundheit und Bildung waren durchaus bekannt [...]. All das war offenkundig, doch die Politiker wollten es nicht sehen oder waren nicht in der Lage, diese Probleme intellektuell zu erfassen.

Jegliche ernsthafte Reaktion würde unpopuläre Entscheidungen erfordern – das, was die politischen Verantwortlichen in den heutigen Demokratien am meisten fürchten. Sagen wir einfach, dass zum Beispiel die Rentenreform, die kürzlich in fast allen europäischen Ländern durchgeführt wurde, schon vor zehn Jahren hätte umgesetzt werden müssen, um heute ein Resultat zu erhoffen. Hinzu kommt, dass die Bildungsspezialisten der EU den europäischen Bildungssektor dazu drängen, Universitäten durch Fachschulen zu ersetzen. Das beweist ein völliges Unverständnis davon, dass sich die Geisteswissenschaften auf die Philosophie und die harten Wissenschaften auf die Mathematik stützen. Die beiden Fächer werden heute unter allen Disziplinen am wenigsten subventioniert.

All das war bekannt. Unser Problem liegt also nicht darin, dass wir zur Vorausplanung unfähig sind, sondern in unserem Unwillen, zu handeln. Zudem waren die von vielen Wirtschaftsexperten empfohlenen technischen Methoden des Krisenmanagements sowohl wirtschaftlich wirkungslos als auch völlig ungeeignet, um die unterschwelligen geistigen und intellektuellen Ursachen der aktuellen Krise zu bekämpfen.

Eine Frage der Gewichtung

Die Demokratie als Idee einer natürlichen Gemeinschaft muss alle ihre Bürger berücksichtigen. Sie muss jeglichen elitären Charakter vermeiden und zugleich individuelle wie auch kollektive Irrationalität in Bezug nehmen. Um diese beiden Elemente miteinander zu vereinbaren, muss man der demokratischen Gemeinschaft erklären, worin genau ihr gemeinschaftliches Interesse liegt, oder eine kollektive Emotion hervorrufen, wenn dieses Interesse klar erkennbar ist (was man in der Vergangenheit Patriotismus nannte). Das gemeinsame Interesse kann Bürger weit besser als das Gemeingut miteinander verbinden, trotz ihrer unterschiedlichen Einstellungen in vielen Fragen.

Um das gemeinsame Interesse zu bestimmen, müssen wir jedoch verstehen, was unsere Privat- bzw. Gemeinschaftsinteressen sind. Wir müssen auch wissen, wie wir Prioritäten setzen und Interessen gewichten. Nur durch einen Konsens hinsichtlich dieser Gewichtung können wir vorwärtskommen, weit über die simple Korrektur des gegenwärtigen Zustands hinaus. Zum heutigen Zeitpunkt ist dies jedoch unmöglich.

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